Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
die persönliche Einstellung des Spenders wurde auf die gleiche Weise übertragen, durch Fixierung einer Gedanken-Matrix direkt im Gehirn des Empfängers.
Ihr eigener Verstand besaß eine Matrix mit fremdartigen Informationen, die es ihr ermöglichten, ihren Standpunkt von seinem klar zu unterscheiden – und auch umgekehrt, was sie bisher nicht gewußt hatte. Wenn man in einer Gemeinschaft aufwuchs, in der das Absorbieren fremder Gedanken bereits vor der Geburt begann – wie war es da möglich, das eigene Bewußtsein von den beeinflussenden Attitüden zu trennen? Vom Einfluß der Eltern, der Nachbarn, der Ahnen?
Mondschatten sah auf sie herab, als fühlte er ihren Blick, der ihn betrachtete; er lächelte fragend, kein Wort war nötig.
Und langsam, erst langsam Satz für Satz, dann immer schneller werdend, begann sie zu lesen.
Wer kann Leben und Tod verehren? Ein Glaubensbekenntnis und eine Totenhymne. Es gibt einen Himmel, das ist der Tod …
Tarawassie riß sich vom Bildschirm des Lesegerätes los, stürzte vom Eck des Tisches fort mit den unbeholfenen Bewegungen von jemandem, der einer schrecklichen Vision ins Auge sehen muß. Die scheußliche Schönheit des Todes war ihr in die Augen gestochen, verborgen in der ebenen Geometrie der geschriebenen Worte … Der Ruf des Todes hatte sie an jenem Nachmittag ereilt, und sie hatte geantwortet …
Mondschatten hatte den ganzen Vormittag mit nervösen Exkursionen hinunter zum Eingang des Gebäudes zugebracht, Ausschau haltend, ob nicht Angehörige seines Volkes jemanden schickten, um nach ihm zu sehen; nun lag er ausgestreckt auf dem Fußboden, schlafend, hatte das Verständnis und letztlich auch das Interesse an der Tortur ihres Lernprozesses verloren. Sie weckte ihn nicht, wußte sie doch nicht, wie sie ihm die ganze schreckliche Wahrheit hätte begreiflich machen sollen: Daß ihr Volk sich der Selbstvernichtung in die Hände gegeben hatte, als Individuen, als Gruppe, mit der ganzen Welt. Sie verehrten den Tod, nicht als mahnendes Ende, sondern als Ende in sich selbst. Sie waren gestorben, gestorben durch Ansichten, die sie nicht in der Lage war zu begreifen, gestorben durch ihre eigenen Hände in ekstatischer Nekrophilie. Und ihre Welt war mit ihnen gestorben, ihre Knochen waren über die weite Oberfläche verstreut, Wind und Wetter ausgeliefert, angenagt vom Zahn der Zeit; jene Handvoll Menschen war verlassen, zum Hierbleiben verurteilt, das letzte Leben im mürben Skelett der Stadt. Und sie war am Leben … allein … unter lebenden Toten. Aber warum …?
Eine Hand streichelte ihre Schulter, und sie erstarrte.
„Was fehlt, Sternenfrau?“ Die ersten Worte, die er einst an sie gerichtet hatte, wiederholte er nun, doch dieses Mal konnte sie seinen Gesichtsausdruck deuten. Und auch er erkannte das Unbegreifliche in ihren Augen und sagte sanft: „Ich höre dich.“
Sie wandte sich ab.
„Alles läuft schief. Je mehr ich suche, desto mehr Antworten erhalte ich und desto mehr wünsche ich, ich hätte nie mit meinen Nachforschungen begonnen. Und doch will ich immer noch mehr … wissen. Warum geschieht gerade mir das? Ich war so glücklich!“
„Was du finden in Worten? Sind schlechte Dinge? Versuch mir zu zeigen, und … ich teile das Böse mit dir.“ Er stand erwartungsvoll vor ihr, einen Fuß am anderen reibend, als wäre es ein Geschenk, ein Angebot, zu dem er nicht verpflichtet war.
„Ich kann nicht. Ich kann dir nicht solch häßliche Dinge sagen, über – über uns.“
„Über Sternenmenschen?“
Sie nickte. „Du würdest das nicht wissen wollen, niemand sollte davon wissen.“
Er suchte nach Worten: „Du mir zeigen, Schmerz wird von dir weichen … geteilter Schmerz. Ich weiß. Ich brauchen, aber niemand vereint mit mir …“ Er spielte nervös mit einem der kleinen Informationsplättchen. „Brauche … brauche Freundschaft mit irgend jemand!“ Seine Finger schnippten, die kleine Scheibe schoß über die polierte Oberfläche des Tisches davon.
Erstaunt registrierte Tarawassie das Aufblitzen einer plötzlichen Erinnerung an ihre Kindheit – so fern und unerreichbar wie die Ufer der Sternenquelle im All. Die Arme ihrer Mutter, die Regenbogenfarben ihres Gewandes, das leise Murmeln ihrer Stimme, das eine Sorge vertrieb: „Nicht weinen, nicht weinen! Geteilte Herzen, ein leichter Händedruck helfen, eine Bürde leichter zu tragen, kleine Tara …“ Tarawassie nickte still und reichte ihm ihre Hand.
Dieses Mal, da sie die Schmerzen nicht
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