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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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fürchtete, fühlte sie keine Pein in dem kribbelnden Sturm, der durch ihre Nervenbahnen zog. Und dieses Mal war es, als würde die elektrostatische Brücke in ihrem Gehirn einen Teil von ihr zurückziehen, über jenen Strang lebender Elektrizität, der sie verband und die fragmentarischen Erinnerungen verschlang. Unter dem mentalen Geräusch erschauernd, rief sie sich die verderbliche Todesekstase ins Gedächtnis zurück, die aus der Vergangenheit herübergriff, um ihre Zukunft zu zerstören, die Welt ihres Volkes. Ihr verwirrendes Gedankenpuzzle mit sich tragend, glitten ihre Verwirrung und ihre Einsamkeit hinüber in Mondschattens wartenden Verstand … wurden geteilt … erleichtert durch sein Verständnis.
    Aber dann, als hätten die Bilder einen Riegel tief in seinem Gedächtnis geöffnet, begann Mondschattens Erinnerung ihren eigenen Geist mit antwortenden Bildern zu erfüllen. Und plötzlich war sie Mondschatten, in einer schleifenden, desorientierenden Verwandlung. Sie sah sich selbst durch fremde Augen, sah sich selbst als Fremde, fühlte silbernen Pelz, der ihre Schultern bedeckte, verwirrt und ungläubig … Aber als sie sich vollständig der Sensation des fremdartigen Geistes hingab, merkte sie, daß es nicht allein Mondschattens Erinnerungen waren, und als er die Kontrolle über sich verlor, fühlte sie sich hinabgezogen in einen anderen Geist – einen menschlichen Verstand. Aufgesogen in der Matrix von Mondschattens Verstand stieg er aus den Tiefen einer generationenlangen Vergangenheit empor:
    Ihr Name (nicht Tarawassie, wer war Tarawassie?) war Shemadans. Shemadans. Sie wiederholte es erneut, um ihr Selbst zu stabilisieren, ihr Herz schlug rasend schnell. Sie fühlte die Zuleitung der medizinischen Versorgung in ihre Schulter schneiden (Tarawassies Gesicht verzog sich), Schmerz, erschreckend real. Sie war nur in die Stadt gekommen, um Waren abzuholen, aber nun kehrte sie ins Lager zurück, eine unendlich schwere Bürde tragend. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren eingetreten: Die Sabotage des Transporters. Sie zwang sich dazu, langsamer zu gehen, als sie die im Schatten verborgen liegende Biegung der Straße erreichte. (Tarawassie starrte wild um sich, panisch angesichts der unvorstellbaren Menschenmenge.) Eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden unter ihren Schuhen, Tarawassie/Shemadans sah über die luftige Höhe der schneebedeckten Kulisse der Weinreben hinweg.
    Sie stellte erschrocken fest, daß sich niemand mehr um sie kümmerte; die Blätter der Weinstöcke starben unter der grauen Hand des Frostes …
    Eine fremde Hand umschloß ihre Arme, und mit einem wilden Schrei drang ihre Angst nach draußen. Aber das grobe Gesicht sah mit leerem Blick durch sie hindurch, verschwand, als der Mann weiterging. Tarawassie/Shemadans atmete zitternd ein; es fiel ihr schwer zu glauben, daß sie Kulturhistorikerin war und kein verschreckter Außenseiter …
    Sie registrierte erleichtert, daß niemand von ihrer plötzlichen Panik Notiz genommen hatte. Sie alle waren nun Fremde – Fremde in der Wirklichkeit. Sie schritten an ihr vorbei, ihrer nicht gewahr werdend, weltvergessen, ungeachtet der Kälte des Tages – Todesanbeter, gefangen im Nebel ihres Chitta-Traumes, vom Tod träumend. Der Hauch eines üblen Geruchs streifte ihre Nase, als sie den engen Raum zwischen zwei Gebäuden durchschritt, aber sie blickte nicht zur Seite … Denn das Träumen war zur Besessenheit geworden, und wenn man sie aus ihren Träumen erweckte … wie kann man Leben und Tod zugleich verehren? Sie alle waren verrückt geworden! Kein Teil ihres Bewußtseins bestritt diese Tatsache noch. Und es war so rasch geschehen … Wie lange noch konnte diese Stadt, diese Kolonie, noch existieren, bevor der lange Herbst ihres Wahnsinns in den letzten kalten Winter übergehen würde, dem kein Frühling mehr folgte? Was sollen wir tun, wenn unsere Welt stirbt? Wir können unsere Kith-Freunde nicht verlassen! Oh, Basilione, Basilione … Sie beschleunigte ihren Schritt, der Beutel mit den Waren baumelte unbeholfen gegen ihre Beine. Sie überquerte die letzte Biegung, sah den Schneepanzer noch dort, wo sie ihn verlassen hatte. Was soll nur aus uns werden, nun, da sie den Transporter zerstört haben?
    Da war etwas, ausgestreckt über der roten Kuppel des Schneepanzers, ein helles, nicht erkennbares Ding, ein Bündel blutüberströmter Lumpen … ein Selbstmörder? Oh, nein. Nicht! Shemadans hielt inne, schrie. Ihr gräßlicher Schrei hallte

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