Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
endlos wider im Zelt ihrer Gedanken, als sie hier im kleinen Zeuge einer sterbenden Welt wurde …
„Nein … nein … nein …“ Tarawassie fand zu sich selbst zurück, der Schrei eines fremden Entsetzens zerriß noch immer ihre Kehle. „Mondschatten!“ Sie preßte ihre schmerzende Hand gegen ihre Lippen, schluckte den letzten, bitteren Nachgeschmack der Angst. „Was – was ist geschehen? Wer war das? Das waren nicht deine Erinnerungen!“
Mondschatten schüttelte den Kopf. Sie sah die Nachwirkungen des Schreckens, die nur langsam aus seinen Zügen verschwanden, während er sie betrachtete. „Du rufst … rufst Ahnengeist, rufst Shemadans“ – er verhaspelte sich –, „wenn du vereinigst. Erinnerung kommt zu Erinnerung.“
„Sie war ein Mensch …“ Sie erkannte, wie wahr seine Behauptung von einem Sternenmann – einem menschlichen Kith-Bruder – gewesen war. Sie hatte unbewußt gefragt, und ihre Frage war beantwortet worden – durch eine Vision aus ihrer eigenen Vergangenheit (die Erinnerung an die belebte Straße raubte ihr erneut den Atem), die irgendwie Teil seines Gedächtnisses geworden war. Wie war das geschehen? Wie lange schon war es her? Und was war mit Shemadans geschehen? Plötzlich verspürte sie das Verlangen, mehr über diesen neuen Teil ihrer Persönlichkeit zu erfahren, dieser neuen Welt, die sich vor ihr auf tat.
Denn nun wußte sie, daß alle Befürchtungen Shemadans eingetroffen waren, wußte, daß die Menschen dieser Welt gestorben waren – gestorben durch Chitta. Tarawassie erkannte das nun überdeutlich – in Shemadans Seelenqual, und auch in ihrer eigenen. Und nun wunderte sie sich, wie diese letzte Handvoll Menschen es vollbracht hatte, so lange zu überleben in dieser Imitation des Lebens – dieser Imitation des Todes.
Mondschatten berührte ihren Arm, riß sie aus ihren nachdenklichen Gedanken. „Wir gehen bald? Wenn zu lange bleiben, Dunkelheit kommt. Mein Volk sieht Licht, kommt, quält mich …“ Er unterbrach sich, die Augen niedergeschlagen. „Ich vereinigen mit dir, böses Wissen teilen. Mache es leichter. Ich dein Kith-Bruder …?“
„Ja.“ Sie nickte, unsicher, ob die Antwort, die sie in der Vereinigung gefunden hatte, sie qualvoll geschwächt oder gestärkt hatte, doch sie spürte, daß es sehr wichtig für sie war, ihm für das Teilen ihrer Last zu danken. „Ja, ich danke dir, mein … Bruder.“ Sie lächelte. Nun, da eine Frage beantwortet war, wußte sie, daß sie den Schlüssel zum wirklichen Verständnis gefunden hatte und sie nicht aufhören würde, bis ihr Wissensdurst gestillt war. „Mondschatten“ – sie reichte ihm erneut ihre Hand, vergaß seine Warnung –, „zeige mir, was mit deinen Ahnen geschah, was Shemadans zustieß!“
Er ergriff ihre Hand. Dieses Mal fühlte sie keine Überraschung, als ihr eigener und Mondschattens Geist miteinander verschmolzen, ihre Fragen und ihren Hunger nach Wissen aufgriffen und langsam hinabsanken in die tieferen Ebenen ihrer/seiner Gegenwart, in bruchstückhafte Erinnerungen, unvollständig durch die langen Jahre, doch unterschwellig immer vorhanden, um ihn durch die Augen seiner Ahnen sehen zu lassen, wann immer es nötig schien, wann immer der Geist dieser alten Stadt ihn rief, sie zu führen …
Einen flüchtigen Augenblick lang wurde sie erneut absorbiert, besaß schmale, graue Hände, einen leuchtenden silbernen Pelz, doch nicht Mondschattens Körper; Tarawassie blickte hinunter in ein menschliches Gesicht, ein männliches Gesicht, schmerzverzerrt. Sie kauerte neben der ausgebrannten Ruine eines Zeltes, benötigte ihre gesamte Kraft, um die entsetzlichen Schmerzen zu vergessen, während sie versuchte, es ihm so angenehm wie nur möglich zu machen …
Und wieder. Sie wurde ein menschlicher Mann – ein Mann, dieses Mal, ihr/sein Name war Basilione (Shemadans – wo war Shemadans? Wo war sie, Tarawassie?) …
Basilione wandte leicht den Kopf, schaute fort von der Prozession der Schneefahrzeuge, die sich am Fluß entlang ihren Weg in das Lager bahnten. Shemadans … Er vergewisserte sich, daß sie wirklich an seiner Seite stand, eine formlose Gestalt unter der schweren Kleidung, nur ihr von der Kälte gerötetes Gesicht war unter der Kapuze zu erkennen. Sie wandte den Blick vom Flußbett ab und ihm zu, als er sie ansah … als wären ihre Bewegungen eins. Ihr Gesicht glättete sich, als sie sein Lächeln sah. Sie erhob den Arm, als er ihn erhob, sie näherten sich einander, die Bewegung
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