Berthold Beitz (German Edition)
verlorenen Krieges auf, und der Rat der Volksbeauftragten muss ausbaden, wofür das alte Regime verantwortlich war. Die Rechten erfinden daraufhin die »Dolchstoßlegende« von der »im Felde unbesiegten Truppe«, denen die Juden und Demokraten in der Heimat den Dolch in den Rücken gestoßen hätten. Es ist die wohl wirkungsvollste Verschwörungstheorie der deutschen Geschichte, sehr viele Menschen glauben sie, auch in Pommern, wo man die neue Demokratie misstrauisch betrachtet. In den Demminer Tannen, auf einem Hügel, errichtet man den Ulanen ein Denkmal, einen gewaltigen Reiter, der den Säbel gen Himmel streckt, als wolle er die siegreichen Feinde noch immer trotzig herausfordern.
SONNIGE JAHRE: SCHULZEIT
Erst langsam weicht die Nacht dem frühen Morgen. Durch die Dunkelheit stapft ein kleiner Junge, vielleicht acht, neun Jahre alt. Da ist eine zweite Gestalt zu sehen, sie nähert sich rasch auf einem ungepflasterten Feldweg. Es ist ein Mann, er trägt eine Geige. Die beiden treffen sich, der Mann gibt dem Kind das Instrument, und sie gehen wieder ihrer Wege: Es sind Vater und Sohn, Erdmann und Berthold Beitz. Der Kleine trägt das wertvolle Stück heim, sein Vater nimmt einen anderen Weg nach Hause, um nicht mit dem verräterischen Instrument gesehen zu werden.
So halten sie es manches Mal Anfang der zwanziger Jahre. Als preußischem Amtmann ist Erdmann Beitz der Nebenerwerb untersagt. Er ist Diener des Staates und von niemandem sonst – so war es immer, auch wenn die Zeiten jetzt rätselhaft und wirr sind, der große Krieg verloren und die Zukunft unsicher ist. Weil das Geld aber überall fehlt, verdient sich Erdmann Beitz ein paar Mark dazu.Auf Hochzeiten und Erntefesten spielt er mit der Geigeauf, bis inden frühen Morgen; und wenn der Weg nach Hause zuweit ist, muss Berthold das verräterische Corpus Delicti übernehmen. Denn Erdmann Beitz darf nicht damit gesehen werden.
Seine Einheit ist 1918 demobilisiert worden. Die Zeit der Ulanen ist vorüber, und von den Armeen des Kaiserreichs bleibt wenig übrig. Die Reichswehr darf nach dem Willen der Sieger und des Versailler Vertrags nur 100 000 Mann zählen. Bertholds Vater sieht sich nach einer Arbeit um und findet sie beim Staat, im Finanzamt von Demmin, der nahen Kreisstadt. 1919/20 zieht die Familie um. Die alte Hansestadt an der Peene mit ihren Giebelhäusern ist im Vergleich zu Zemmin eine große Welt für einen kleinen Jungen. In den ehemaligen Soldatenkasernen findet sich eine preiswerte Wohnung. Berthold geht hier zur Grundschule und in die erste Klasse der Oberschule.
1925, in seinem zwölften Lebensjahr, zieht die vierköpfige Familie erneut um, und zwar in eine Stadt, die zu den schönsten im Norden gehört, nach Greifswald. Sie ist nur wenig über ihre Ränder hinausgewachsen, seit Caspar David Friedrich sie 1821 gemalt hat: Auf dem berühmten Bild Wiesen vor Greifswald sieht man eine Stadt mit hohen Türmen unter einem weitem Himmel, gleichsam in sich selbst ruhend im Schutz der baumbestandenen Wälle, auf den Weiden davor Pferde, Mühlen, Möwen. Greifswald erlebt nach dem Ende der Inflation 1923 einen bescheidenen Aufschwung, die Zeiten scheinen ruhiger zu werden.
Hier verbringt Berthold Beitz eine schöne Schulzeit als Halbwüchsiger. Mit Brunhild und seinen Eltern wohnt er mitten in der Stadt, in der Gützkower Straße. Mit kurzem blondem Haar und klaren, prägnanten Gesichtszügen, sportlich und unbefangen, wird er zum Schwarm vieler Mädchen, in deren Mitte er sich täglich bewegt: Berthold Beitz ist einer der wenigen Jungen auf dem Lyzeum Kaiserin Victoria, einer höheren Töchterschule, die sich soeben erst der Koedukation geöffnet hat. Einer seiner Jugendfreunde ist Karl-Heinz Bendt, dem Berthold Beitz 1942 in einem Verhörzimmer der Gestapo in Breslau wiederbegegnen wird.
Freilich, die Begeisterung mancher Mitschülerin für ihn wird im Lehrerkollegium wenig geteilt. Berthold Beitz tut nämlich nur das Nötigste und häufig nicht einmal das. »Ich habe die Bücher oft gleich im Klassenzimmer gelassen und gar nicht erst mit nach Hause genommen«, erinnert er sich. »Wir sind nach der Schule gleich zum Strand gelaufen und haben gebadet.« Eine Zeitlang genügt minimaler Aufwand für den maximalen Nutzen, nämlich die Versetzung in die nächste Klasse.
Sehr viele Jahre später schickt ein alter Schulfreund Beitz eine von dessen Prüfungsarbeiten aus der Obersekunda, März 1930. Das Thema: »Die deutsche Nordseelandschaft«. Auf
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