Berthold Beitz (German Edition)
wird, der seinen eigenen Weg gehen wird, wenn er das nur für richtig hält? Hier verbieten sich eindeutige Antworten, denn es gibt sie nicht. Der kleine Berthold Beitz ist ein mäßiger Schüler und kein Wunderkind; er ist mäßig nicht im Talent, aber im Interesse. Und Erdmann und Erna Beitz sind nicht die Eltern, die ihrem Sohn stets bestätigen, dass die größten Aufgaben einmal gerade gut genug für ihn sein werden. Auf Anraten der Großmutter wollen sie ihn zum Pastor machen, das wäre aus ihrer Sicht Höheres genug, ein beachtlicher Aufstieg im Rahmen ihrer Welt.
Anders als in manch anderen Elternhäusern, deren Kinder später nicht mit den Nazis marschieren, ist es auch keine starke, gar strenge Religiosität, die ihn prägt. Gewiss, man geht in Zemmin in die kleine Dorfkirche; und in der Greifswalder Nikolaikirche spielt Berthold, sanft gedrängt vom hochmusikalischen Vater, zu Weihnachten auf der Geige im Streichquartett. Ein Mann der Kirche und des Kirchgangs ist freilich nicht aus ihm geworden, und erst im hohen Alter wird er einmal gegenüber Rudolf Augstein freimütig bekennen: »Manchmal denke ich, Berthold, vielleicht ist auch einer da, der die Hand drüber hält … Ich laufe ja nicht in die Kirche. Aber ich glaube schon, daß man einen Bonus hat.«
Schon gar nicht ist das Elternhaus von Berthold Beitz ein Ort, an dem die Kinder im Geiste der Auflehnung gegen das Regime erzogen werden. Man mag die Nazis nicht besonders, das ist die eine Sache. Aber ein treuer Soldat und Beamter wie Erdmann Beitz wird andererseits dem Staate geben, was des Staates ist; in seinem konservativen Denken hat so etwas wie Rebellion keinen Platz. Der Publizist Joachim Fest (1926–2006) hat in dem beeindruckenden autobiographischen Buch Ich nicht beschrieben, wie der Vater die Söhne zur Ablehnung des verhassten Systems erzog, dessen Verführer die Seelen der Kinder zu ergreifen trachteten: »Wir sind keine kleinen Leute. Nicht in solchen Fragen!« Ein solcher Geist wäre Erdmann Beitz völlig fremd gewesen. Er war aufgewachsen im Dienst für Krone und Vaterland. Sein Sohn sagt heute: »Zu Hause haben wir nicht viel über Politik geredet.«
Was Berthold Beitz prägt, seinen Charakter formt und vorhandene Anlagen stärkt, sind daher nicht Überzeugungen, Dogmen oder religiöser Glaube. Es ist etwas anderes: die Tatsache, dass er sein darf, wie er ist, und nicht, wie ihn die Eltern vielleicht formen wollten, sowie gegenseitiger Respekt vor dem Wesen des anderen, in Bertholds Fall vor diesem heiteren, zugewandten Jungen, dem man einfach nachsehen muss, dass er es mit dem Lernen nicht so genau nimmt. All das ist in dieser Zeit nicht selbstverständlich. In der Epoche seiner Kindheit und zumal auf dem Land, fern zarter Ansätze städtischer Reformpädagogik, ist »körperliche Züchtigung«, etwa der Einsatz des Rohrstocks, in vielen Familien ein gängiges Mittel der Erziehung; in der Schule ohnehin. »Nun geschieht hier das Prügeln zu einem höheren, ja sittlichen Zweck, wie Ihnen jeder Pfarrer gern bestätigen wird«, schreibt Kurt Tucholsky 1929, »und der Prügler hat zwei Befriedigungen auf einmal: die sadistische und die scheinbar ethische. Nutzbar gemachter Dampf.« Unterwerfung als Mittel, den kindlichen Willen zu brechen, wenn es sich nicht fügen will, nicht »spuren«, wie man in den dreißiger Jahren gern sagt. Nicht so im Hause Beitz. »Mein Vater hat mich niemals geschlagen«, sagt Berthold Beitz heute.
Kinder, die eine solche Erfahrung machen, haben einen Vorteil: »Sie fühlen sich als die, die sie sind, und damit als etwas Besonderes, und sie wissen, dass sie wertgeschätzt werden.« In der modernen Pädagogik nennt man das »Resilienz«. Nichts anderes ist es, was Berthold Beitz in seinem Elternhaus erlebt: Grenzen, wo Grenzen sein müssen, aber nicht um ihrer selbst willen; die Stärkung des Kindes durch Akzeptanz, Liebe und Rückhalt bei den Eltern; die Kunst, durch das Vertrauen der Eltern das Vertrauen in die eigene Kraft zu erlernen. Vom Vater hat er, was sich später doch zeigen wird, Verantwortungsgefühl und Disziplin; von der Mutter die Gabe, gut mit den Leuten umgehen zu können, gleich welcher Herkunft.
Die Mutter, glaubt er heute, »hatte bei uns eigentlich das Sagen«. Das bekommt auch er gelegentlich zu spüren. In Demmin trifft die Mutter beim Einkaufen den Schullehrer, einen freundlichen Mann, der sich erkundigt: »Frau Beitz, wie geht es denn dem armen Berthold?« Ihr schwant nichts
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