Berufen (Die Kinder des Schöpfers, Band 1) (German Edition)
hatte er einmal Fremdenführer werden wollen.
Doch das war eine Zeit her.
Nun war er, wenn man von einigen dreckigen Aufgaben absah, arbeitslos.
» Geht klar.«
Sie strich sich eine braune Strähne aus dem Gesicht . »Ich bin Talmea Mire.«
» Vlain Moore.«
Talmea verschränkte die Arme vor der Brust . »Sie haben aber keine Familie, die Zuhause auf Sie wartet? Ich möchte nicht für Streitigkeiten sorgen.« Er musterte sie ein wenig länger. Es passierte oft, dass jüngere Frauen sich für ihn interessierten. Äußerlich wirkte er runde zehn Jahre jünger, als er tatsächlich war. Abgesehen davon, ist man mit achtunddreißig noch nicht alt, dachte er schmunzelnd. Seine Lebenserwartung war ohnehin höher, als die normaler Menschen.
» Eine Frau und zwei Kinder«, log er glatt. Er hatte seit etwa acht Jahren keine Frau mehr an seiner Seite gehabt und war kinderlos, doch das brauchte sie ebenfalls nicht zu wissen.
» Ich möchte wirklich keine Unannehmlichkeiten bereiten…« Sie ließ den Satz unbeendet.
» Das tun Sie nicht.«
» Dann bis heute Abend.«
Talmea deutete an ihm vorbei.
Die Schneiderin hatte den lästigen Kunden endlich abgewimmelt.
» Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, begann sie. Spar dir das und komm zur Sache! Vielleicht bin ich dann bereit ein Auge zuzukneifen. »Wer ist zuerst an der Reihe?«
Talmea ließ Vlain wie vereinbart den Vortritt.
» Folgen Sie mir bitte.« Die Verkäuferin lächelte Talmea beschwichtigend zu und führte ihn in einen Nebenraum.
» Der Anzug, richtig? Mr. Moore?«
Er nickte und hoffte, dass sie sich beeilen würde.
»Warten Sie einen Moment.« Sie verschwand im hinteren Teil des kleinen Raumes, in dem kreuz und quer verschieden große Ankleidepuppen verteilt standen. Einige trugen Kleider und Mäntel, andere Hemden und Hosen und Röcke, wieder andere Kutten und Roben; einfarbig, bunt, exotisch oder traditionell. Für jeden war etwas dabei.
Es dauerte nur wenige Minuten, da kam die Schneiderin mit einem dunklen Anzug zurück.
Vlain wollte eben die Hand danach ausstrecken, als ihn die Glocken des Kirchturmes daran erinnerten, dass soeben die Beerdigung begann. »Könnte ich den Anzug vielleicht anprobieren?«
Die Schneiderin nickte . »Hinter dem großen Paravent sind zwei Umkleidekabinen.« Damit drückte sie ihm den Anzug in die Hand, schnappte sich eines der bunten Tüllkleider und ließ ihn allein zurück.
Sofort stürmte Vlain auf die Umkleide zu. Hastig knöpfte er sich das schmuddelige Hemd auf. Tauschte es gegen das frische und versuchte zeitglei ch, aus seiner Hose zu schlüpfen, was sich jedoch als unmöglich erwies. Ungeschickt verlor er das Gleichgewicht und stieß sich den Ellenbogen in der Enge der Kabine. Sein Musikknochen sang. »Verflucht«, ächzte er. Ohne seine zweite Hälfte war er doch immer noch der Trottel von früher. Er zog sich den Frack über. Ein rascher Blick in den Spiegel.
Dann rauschte er durch den Raum mit den Kleidern, an der Theke vorbei und legte eine, seiner Meinung nach angemessene Menge Münzen dorthin, um seine Rechnung zu begleichen.
Als Vlain auf die Straße trat, zügelte er sein Tempo trotz der fortgeschrittenen Zeit.
Unauffälligkeit war das Stichwort.
Lebensnotwendig, wenn man ständig auf der Flucht war. Eine Gabe, die er sich über Jahre hinweg angeeignet hatte.
Je ruhiger er äußerlich wurde, desto unruhiger wurde es in seinem Inneren.
Er war gespannt, was ihn erwartete.
Vlain hatte Gerüchte über seine Zielperson gehört und war neugierig, welche von ihnen der Wahrheit entsprächen und welche nicht.
Schon von weitem erkannte er eine Menschenmenge auf der Straße, die ihm den Weg versperrte. Ein Großteil von ihnen Frauen und junge Mädchen, die Schilde in die Höhe hielten und lauthals verlangten, ihre Männer, Brüder und Geliebten von der Front heimzuschicken. Vlain hatte von den Rebellionen in Yoranis, Elenyrias Nachbarkontinent im Süden, gehört. Einige Yorani akzeptierten ihre Verbannung aus dem Vereinigten Elenyria noch immer nicht.
Das hatte auch noch gefehlt!
Kurzerhand bog Vlain in eine Seitenstraße ein.
Er war gereizt. Etwas drängte aus seinem Inneren an die Oberfläche.
Ein Kribbeln breitete sich in seinem Mund aus und durchzog sein Zahnfleisch. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Kiefer und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er hörte es knacken und knirschen. War sich sicher, dass sein Kopf jeden Augenblick zerspringen müsse.
Überstürzt hastete er
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