Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
nur der verlängerte Arm der Nationalsozialisten war. Trotzdem versuchte sie innerhalb des ihr verbliebenen Freiraums, die Rechte und die Würde der Juden zu wahren, so gut es möglich war. Therese hatte bald Vertrauen zu dieser klugen, warmherzigen Frau, die ihre eigenen Interessen hintanstellte, um den ihr anvertrauten Juden zu helfen. Sie selbst war als Tochter einer Christin, die mit einem jüdischen Arzt verheiratet war, durchaus privilegiert. Doch sie identifizierte sich vollkommen mit der jüdischen Gemeinde. Ihr Mann, ein von den Nazis verfolgter Jude und bekannter Sozialdemokrat, hatte mit den beiden Kindern nach England entkommen können. Dafür war nun Else Behrend-Rosenfeld eine mehr als dreihundertköpfige Familie auf den Hals geladen. Verfemte, zur Zwangsarbeit Verpflichtete, Menschen, die von der Gemeinschaft der anderen ausgesondert wurden.
Jeden Morgen, außer sonntags, ging Therese mit Sybille und Mutter aus dem Lager zur Arbeit. Sie hatten einen Passierschein, den sie beim Verlassen des Lagers der Wachevorzeigen mußten. Und beim Heimkommen auch. Valerie war für die Arbeitsstunden im Kindergarten der Heimanlage untergebracht. Dort gefiel es ihr natürlich besser als in einem Zimmer nur mit Erwachsenen. Jetzt waren es durch die Liebmanns sogar noch mehr Frauen, die sich um die Tassen, Teller und Bestecke stritten und darum, wer jetzt im Eimer Wäsche waschen und aufhängen durfte.
An einem Abend im September kam Therese müde und durstig von der Arbeit zurück. Im Flur der Heimanlage sah sie viele Leute am Schwarzen Brett stehen. Sie schienen Therese seltsam stumm und verkrümmt, wie sie da so standen. Auch Thereses Schwiegermutter, auf ihren Stock gestützt, mühte sich schweigend, die »Mitteilung der israelitischen Kultusgemeinde an sämtliche Juden« zu lesen. Auch Therese las. Sie vergaß Müdigkeit und Durst. Es war ihr, als brenne schon jetzt der gelbe Stern auf ihrer Brust. »Judensterne«, so hieß es, »sind von sämtlichen Juden sichtbar zu tragen und dürfen nicht verdeckt werden. Sie müssen fest angenäht sein.« Therese las weiter: »Stehenbleiben und Unterhaltungen auf der Straße sowie das Gehen in Gruppen ist zu unterlassen. Öffentliche Anlagen, wie Englischer Garten, Botanischer Garten, Nymphenburger Schloßgarten, Hofgarten, Maximiliansanlagen und der Tierpark Hellabrunn, sind für Juden gesperrt. Juden dürfen keine Lebensmittelläden mehr betreten, keine öffentlichen Telefone mehr benutzen. Sie dürfen nicht mehr in öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und keine Bäder aufsuchen. Arier dürfen die Heimanlage für Juden nicht betreten. Jeder Ausgang in die Stadt, außer zur Arbeit, ist verboten. Juden dürfen von abends acht Uhr bis morgens um sechs Uhr die Heimanlage nicht mehr verlassen. Reichsgesetz.«
Wie sollte Therese das alles ihrem Kind erklären? Für Valerie wurde das Leben immer enger, immer unbegreiflicher.Anfangs fragte die Kleine, warum Therese jetzt immer in die Fabrik gehen müsse. Therese erklärte ihr, daß das ein Befehl der Regierung sei. Und Valerie, obwohl sie natürlich nichts verstand, fragte nicht mehr. Sie bekam ohnehin Antworten. Jeden Tag neue. Besonders seit alle Leute im Lager den gelben Stern an ihre Kleider genäht hatten.
»Mama«, fragte Valerie, »warum näht ihr die gelben Sterne auf die Kleider?«
»Weil wir Juden sind, Valerie.«
»Was sind Juden, Mama?«
»Ich weiß es nicht, Valerie, ich muß es erst lernen.«
»Und ich, Mami, bin ich auch Jude?«
»Ja, Valerie.«
»Aber warum hab ich keinen Stern?«
»Weil du erst fünf Jahre alt bist. Erst wenn du sechs bist, mußt du einen Stern tragen.«
»Ich will schon jetzt einen Stern, Mama.«
Bald darauf kam Valerie angehüpft und stellte sich vor Therese auf: »Mein Papa heißt Leon Rheinfelder und wohnt in New York, West End Avenue 515.«
Therese fragte überrascht, woher Valerie das denn wisse. »Die Großmutter hat es mir gesagt, und ich soll es immer wieder aufsagen.«
Therese fragte sich in dumpfem Schrecken, warum Valerie Rheinfelder ihrer Enkelin die Adresse Leons einübte. Was ahnte Leons Mutter? Was befürchtete sie? Manchmal spürte Therese die Liebe zu Valerie wie einen scharfzackigen Stein, der durch ihr Inneres rollte und alles zerschnitt. Therese sah den Ernst Valeries, ihr konzentriertes Bemühen, die Welt zu begreifen. Sie wollte mit Therese darin leben, sie vertraute ihr. Die ruhige Zuversicht Valeries, mit der sie jeden Tag in Angriff nahm, machte Therese
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