Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
noch elender, ließ sie manchmal nicht schlafen.
Was wartete auf Valerie? Was hatte das Leben mit Thereses kleinem Mädchen vor? Therese dachte wieder an den prüfenden blauen Blick ihres Kindes, in dem viele Fragen, aber auch viel Vertrauen gelegen war. Ruhig schlief Valerie auch jetzt auf ihrem Bett, das nur eine Pritsche war. Klaglos hatte Valerie den Umzug akzeptiert. Nur der Tod des Großvaters, den Therese ihr schließlich mitteilen mußte, der Gedanke, daß der Großvater nie zurückkommen werde, der hatte Valerie stumm gemacht für lange Stunden. Still hatte sie sich zu ihrer Großmutter gehockt, die mit ihr weinte, lautlos. Als es Zeit war zum Schlafengehen, hatte Valerie offenbar lange genug geschwiegen. »Es ist schön«, sagte sie mit klarer Stimme, als Therese ihr Gesicht und Hände in einer Schüssel wusch. »Es ist schön, daß wir alle in einem Zimmer schlafen. Da bin ich nie mehr allein.«
An einem Novemberabend, es war schon empfindlich kalt für die Jahreszeit, kam Therese durchgefroren von ihrer Arbeit aus dem Sendlinger Rüstungsbetrieb, wo sie von morgens bis abends Schrauben in Feldtelefone drehte. Schmutzig und erschöpft fühlte sich Therese, so wie jeden Abend, und sie sehnte sich danach, den Kopf in die Waschschüssel zu stecken. Doch im Flur winkte ihr Else Behrend-Rosenfeld. »Therese, kommen Sie doch bitte in mein Büro.«
Therese sah sofort, daß Else Behrend-Rosenfeld verzweifelt war, aufgewühlt. Ihr Gesicht war weiß, die Hände zitterten, als sie Therese eine Liste zeigte. »Therese, aus München werden Deportationen zusammengestellt, auch aus unserem Lager. Dreiundachtzig Heiminsassen. Ihre Großeltern Suttner und Rheinfelder stehen auch auf der Liste. Therese, beim nächstenmal stehen vielleicht Sie auf der Liste, und ich auch. Wenn Sie irgendeine Möglichkeit haben, verstecken Sie sich, kommen Sie nicht mehr zurück. Tauchen Sie unter.«
Deportation. Therese hatte es gewußt. Obwohl um sie herum noch alle von Hirngespinsten sprachen, von Kriegshetze, hatte Therese den Gerüchten sofort geglaubt. Der Sender BBC hatte es gemeldet, daß schon im Herbst 1941 Massenerschießungen von Juden im Osten geplant seien. Von Versuchsvergasungen war berichtet worden. Und nun begann es. Deportation. Offiziell hieß das Arbeitslager. Vielleicht hatten die Großeltern Glück und es hieß Theresienstadt, Sudetengau. Ein Ghetto für besonders verdienstvolle Juden sollte dort eingerichtet worden sein. Für Juden über fünfundsechzig, die das Eiserne Kreuz erster Klasse hatten. Oder Tapferkeitsmedaillen. Auch Juden, die sich der Protektion einflußreicher Arier erfreuten, durften nach Theresienstadt und kamen nicht sofort nach Auschwitz in Polen.
Therese sah Else Behrend-Rosenfeld an. Beide wußten, daß es keinen Trost gab. Als hätte Else Thereses Gedanken erraten, sagte sie müde und traurig: »Wir können nur hoffen, daß Ihre Großeltern nach Theresienstadt kommen. Vielleicht können Sie Ihre Verwandten mit diesem Gedanken trösten.«
Therese sagte es zuerst Großvater und Schwiegervater. Die beiden Männer gingen mit hinauf in das Stockwerk, wo die Frauen wohnten. Aus allen Räumen hörte man Schreien, Weinen, Klagen. Else Behrend-Rosenfeld ging von Zimmer zu Zimmer, half den Menschen beim Packen, denn morgen und übermorgen sollten die achtzig Heiminsassen ins Sammellager nach Milbertshofen gebracht werden. Für drei Tage sollte jeder Proviant bekommen. Jeder durfte fünfzig Kilogramm Gepäck mitnehmen, in einem Koffer, einem Rucksack oder einer Reisetasche.
Therese, Sybille und Mutter halfen den alten Leuten, ihre Sachen zusammenzupacken. Alle vier saßen still da. Selbst Valerie Rheinfelder die Ältere sagte kein Wort. Valeriesaß zwischen ihren Großeltern. Es war Therese, als studierten Leons Eltern das Gesichtchen ihrer einzigen Enkelin. Sie suchten darin die Züge ihres Sohnes. Vielleicht suchten sie auch nach sich selbst. Die Großeltern Suttner drängten sich eng an Sybille und Therese. Früher, Therese erinnerte sich gut, war das Verhältnis zu Vaters Eltern eher kühl gewesen. Außer Anstandsbesuchen an Geburtstagen oder an Weihnachten hatte es lediglich geschäftliche Besprechungen zwischen den Männern gegeben. Und die waren konfliktgeladen gewesen, was wohl auch letztlich der Grund für die verwandtschaftliche Kühle war. Großvater Suttner hatte auch, im Gegensatz zu seinem Sohn, Auswanderungspläne gehabt, als es noch Zeit dazu gewesen war. Therese hörte heute noch den
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