Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
abgestiegen, klaglos. Doch immer mit dem Blick zurück. Immer hat er erwartet, daß man ihn zurückruft, bis heute. Doch Valeries Frage konnte er nicht überleben.«
Ein Lastwagen der jüdischen Kultusgemeinde lud ihren Hausrat auf. Therese schien es wie ein Mülltransport, aber sie war froh über die Hilfe. Ein Leichenwagen, ebenfalls von der Kultusgemeinde, holte Vater ab und brachte ihn zum jüdischen Friedhof. Das Familiengrab auf dem Nordfriedhof blieb dem Juden verschlossen. Therese, ihre Mutter, Sybille und Valerie machten sich auf den Weg nach Berg am Laim. »Wir sind Pilger«, dachte Therese ohne Hoffnung, »wir sind Pilger, die ihr Ziel nicht kennen.«
Nie vorher in ihrem Leben waren sie einen so weiten Weg zu Fuß gegangen. Durch den Englischen Garten zur Prinzregentenstraße, vorbei am Friedensengel in den Ostteil der Stadt, wo das Kloster der Vincentinerinnen lag. Sie durchliefen die Straßen, die ihnen schon lange nicht mehr gehörten. Stück für Stück waren sie abgesondert worden von den Bürgern der Stadt, aussortiert und weggeworfen wie angefaulte Äpfel, die man von den anderen trennt, damit die nicht auch faulen.
Obwohl es schon fast auf sechs Uhr ging, hatte die Augustsonne noch soviel Kraft, daß das Kloster in rotgoldenem Licht dalag, inmitten von Wiesen. Eine Idylle zum Tode. Völlig abgeschieden von den Häuserschluchten, aus denen sie kamen. Ein Schäfer weidete seine Herde. Valerie wollte sofort hinlaufen, doch Polizisten standen am Eingang und paßten auf, daß die Leute, die mit Taschen und Koffern ankamen, sofort durch das steinerne Portal in die Heimanlage hineingingen. Über der Pforte in Stein gemeißelt das Bild des heiligen Vincentius, der zwei kleine Kinder im Arm hielt. Therese zeigte Valerie das Bild, die, müde und ergeben, kein Wort darüber verlor, daß sie nicht zu den Schafen laufen durfte.
Die Gesichter der Ankommenden hatten eine steinerne Ruhe, hinter der das Nichtbegreifen, die Verzweiflung, jederzeit hervorbrechen konnte. Sogar die Kinder schienen durch alle und durch alles hindurchzusehen. Apathisch suchten sie in den Gesichtern der Erwachsenen nach Hoffnung. Valerie zupfte Therese am Mantel. »Kommt der Großvater auch bald?« – »Bald«, sagte Therese. Sie wollte es Valerie morgen sagen. Morgen früh bei den Schafen.
Sie bekamen einen großen Raum, den sie mit anderen Familien teilten. Jede hatte eine der schmalen Holzpritschen, die übereinandergestapelt waren. Im Flur stand ein Militärspind für die Kleider. Therese sah die anderen an.Frauen und Kinder. Die Männer waren in getrennten Räumen untergebracht. Therese kannte die Familien nicht, aber sie glaubte mit einemmal, daß es eine Ähnlichkeit gebe zwischen ihnen allen. Therese hatte aber keine Zeit, sich auf diesen Gedanken wirklich einzulassen. Sie warteten auf den Transport mit den Einrichtungsgegenständen, doch die Sachen waren noch nicht da.
Mutter setzte sich müde in eine Ecke auf den Boden. »Das hat Vater sich erspart«, sagte sie. Es klang bewundernd, wie ein leiser Triumph. Die älteste Frau im Zimmer, Frau Liebmann, eine orthodoxe Jüdin, hockte sich neben Mutter. Kopfschüttelnd murmelte sie immer wieder: »Das ham sie uns mit Fleiß getan, die Nazischweine. In ein Kloster stecken sie uns. In ein katholisches Kloster, wo sie genau wissen, daß wir hier nicht Sabbat feiern können.«
Therese spürte, wie sie sich mit dem Einzug ins Lager veränderte. Hier, Jüdin unter Juden, spürte sie zum erstenmal eine Solidarität, war sie nicht mehr geduckt in die Anonymität unter Ariern, in die sie sich bislang so oft hineingeflüchtet hatte. Erst jetzt nahm Therese den Makel ihres Jüdischseins an. Nicht ohne Trotz, mit einer Art traurigem Stolz, den sie sich selber nicht zu erklären wußte. Therese war bereit, die Gegenwart im Schutz dieses Klosters, ihre neue Identität bewußt und mit allen Sinnen anzunehmen. Denn die Zukunft war inzwischen für niemanden mehr ein Geheimnis. Die Zukunft war dunkel und voller Rätsel wie der Tod.
Den Nonnen des Klosters war es von der Parteileitung untersagt, mit den Juden zu sprechen. Den Juden war untersagt, mit den Nonnen Kontakt aufzunehmen. Doch die Vincentinerinnen übertraten das Verbot der Nazis lächelnd. Sie hatten für die jüdischen Familien den Seitenflügel ihres Klosters geräumt. Aus ihrem Garten lieferten sie den Internierten das schmerzlich vermißte Obst undGemüse, auf das Juden schon lange kein Anrecht mehr hatten. Auch einen Teil des
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