Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
Semester Philosophie studiert.«
Sybille war ja auch die einzig wirkliche Jüdin in der Familie Suttner, obwohl die gesamte Familie jetzt zur jüdischen Kultusgemeinde Münchens gehörte. Ihr äußeres Leben verlief nun in den Bahnen, die von den Nationalsozialisten unausweichbar für Juden gestanzt waren. Thereses Familie wurde mit dem Umzug ins Lager nach Berg am Laim von der jüdischen Kultusgemeinde betreut. Ein Sammeltransport würde im Lauf des Tages die paar Teller, Löffel, Stühle und Matratzen, die man ihnen ließ, ins Lager bringen. Besen und Putztücher waren ausdrücklich verlangt. Und fünfzig Pfennig Miete pro Kopf und Tag. Vater half Therese und Sybille, die Matratzen zum Gartentor zu tragen. Für jeden einen Stuhl, ungepolstert. Mutter hatte von den letzten Holunderbeeren eine Suppe gekocht. Dann gab es Kompott von Zwetschgen. Sie saßen um den Tisch, und Therese spürte, wie jeder für sich vom Haus Abschied nahm.
Nur Valerie sprach es aus. »Ist es im Lager schön, Mama?«
Therese sagte, daß sie es nicht wisse, da sie ja noch niemals dort gewesen sei. »Es wird schön sein, weil du da bist.« Vater schob seinen Teller zurück, beugte sich zu Valerie und küßte ihre Hand. Zuerst die kleinen Grübchen auf dem Handrücken, dann die Innenfläche. Valerie hielt still. Die beiden sahen sich an, und für einen Moment war die Luft voll Liebe und Schmerz. Dann ging Vater ohne einWort in sein Arbeitszimmer. Auch Mutter stand auf mit dem Bemerken, sie wolle noch ins Atelier. Therese wusch mit Sybille und Valerie in der Küche das Geschirr ab, als sie den Schuß hörten. Therese sah, wie der rote Saft des Zwetschgenkompotts sich mit dem Wasserstrahl vermengte, wie nur das Wasser blieb, das im Ausgußsieb einen kleinen Strudel bildete. Die Gleichgültigkeit der Dinge. Jeden Tag würden sich im Ausguß Strudel bilden, wenn Therese schon lange nicht mehr da war. Der Steinboden würde sein, die Fensternischen. Vielleicht würde auch alles zerbombt, wer konnte es ahnen. Therese war es gleichgültig. Sie spürte eine andere Spannung in sich wachsen. Eine starke innere Spannung. Einen Willen, sich zu erhalten. Sie wollte nicht sehen, was in Vaters Arbeitszimmer passiert war. Sie wußte es ja ohnehin. Sie wollte nicht mehr wissen, was gestern war, und was morgen sein würde. Überhaupt nicht mehr denken wollte Therese. Es gab ja doch keine Worte, die richtig waren für das, was ihnen widerfuhr, was ihnen noch widerfahren würde. Im Arbeitszimmer war jetzt der Tod. Doch Therese wußte, daß sie alles, aber auch gar alles, lieber auf sich nehmen würde als sterben. Nur den Tod konnte sich Therese noch trostloser vorstellen als ihre gegenwärtige Existenz. Darum kam er als Alternative für Therese nicht in Frage.
Sybille hatte Valerie auf den Arm genommen. Vielleicht, um sie – und sich selbst – von dem Grauen abzulenken. Die beiden gingen in den Salon. Therese hörte, wie Sybille am Flügel ein paar Töne anschlug. ›Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben‹.
… an deines Gottes Gaben. Therese dachte, wer ist Gott? Er hat den Himmel erschaffen und die Erde. Die Nationalsozialisten und die Juden. Aber die Juden zuerst. Hatten sie das Recht der Erstgeburt gegen ein Linsengerichtverkauft? Und Vater? Sein Gott war Deutschland gewesen, das Vaterland. Er hatte es immer wieder gesagt. »Das Vaterland«, hatte Vater gesagt, »ist da, wo die Seele des Menschen ist.« Die Seele des Menschen. Therese ging ins Atelier der Mutter. Mit ruhigem, ganz in sich gesammeltem Gesicht war die Mutter dabei, ihre Bilder mit einem Messer zu zerschneiden. Sie sah nicht auf, als Therese hereinkam. Hatte sie den Schuß nicht gehört?
»Warum tust du das?« fragte Therese. Sie vermutete, daß ihre Mutter keine andere Wahl hatte. Ihre Mutter schien die Zerstörung ihrer jahrzehntelangen Arbeit als logische Konsequenz aus dem Geschehen anzusehen. »Du sagst doch auch, daß wir ihnen nicht alles überantworten können. Und die Bilder sind ein Teil meines Lebens, so wie du und Sybille. Wenn ich meine Bilder nicht preisgeben will, muß ich sie zerstören. Hier ist das Messer die Erlösung. Bei deinem Vater war es die Kugel. Dein Vater wollte uns nicht im Lager sehen, und er selbst wollte dort auch nicht sein. Bis zuletzt hat er nicht geglaubt, daß die Deutschen ihn, der die längste Zeit seines Lebens ebenfalls Deutscher war, daß sie ihn auch noch die letzte Stufe hinunterstoßen. Er ist
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