Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
zu sehen. Therese wußte, daß sie so rasch wie möglich von diesem Platz verschwinden sollte. Anni hatte ihr gesagt, daß das Haus ihres Bruders, des Polizeihauptwachtmeisters von Wiesham, in der Nähe des Bahnhofs lag. Linker Hand, hatte Anni gesagt. Und Therese ging los. Zum erstenmal schaute sie auf ihre Armbanduhr. Doch die war stehengeblieben. Therese schätzte, daß es gegen sieben Uhr sein mußte, und Therese dachte zum erstenmal wieder an Sybille und Mutter. Hatten sie es auch geschafft? Wo waren sie jetzt? Valerie – wo war Valerie? Sie alle, Valerie, Mutter und Sybille, alle, die Thereses Leben ausmachten, waren irgendwo an einem Ort, den Therese sich nicht vorstellen konnte. Aber sie waren in der Nähe des Todes, wie Therese, das war sicher.
Therese erkannte die Polizeidienststelle sofort an dem Spitzbogen, über dem der Reichsadler hockte. Die Wohnung der Lechners, so hatte Anni gesagt, lag im ersten Stock. Hier schliefen auch die Polizeibeamten.
Therese zögerte, bei der Familie Lechner zu klingeln.Von Anni wußte sie, daß die Lechners grundsätzlich bereit waren, Therese aufzunehmen. Doch Anni hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den genauen Zeitpunkt der Ankunft Thereses mitzuteilen. Therese sah sich um. Ein Bauernfuhrwerk kam aus einem Gehöft. Ansonsten war der Platz noch ruhig. Doch Therese wußte, daß die Gestapo inzwischen auch auf dem Land nach geflüchteten Juden suchte. Daß sich richtiggehende Greiftrupps gebildet hatten, die sich rühmten, Juden mit tödlicher Sicherheit schon von weitem zu erkennen.
Therese drückte auf die Klingel, dann lauschte sie, hörte aber nur ihr eigenes Herz im Kopf klopfen. Therese schellte nochmals, wandte sich aber schon zum Gehen, als ein Mann über ihr den Kopf zum Fenster herausstreckte. Er knöpfte sich gerade seine Uniformjacke zu. »Was is?« fragte er. Therese hob ihren Schleier nur ganz leicht, entschuldigte sich. Sagte, daß sie eine Cousine der Lechners sei und aus München komme, um von Verwandten etwas zu überbringen. »Von München?« Der Polizist lachte. »Gestern san s’ mit dem Zug nach München, ja Kruzifix.«
Therese war fast übel vor Angst und Enttäuschung. Wohin sollte sie nun gehen? Auf jeden Fall mußte sie fort von diesem Polizisten. Sie ging mit raschen Schritten in einen Weg hinein, von dem sie annahm, daß er sie in den Ort führte. Erst jetzt spürte Therese, daß sie müde war, erschöpft bis zur Empfindungslosigkeit. Sie hatte die vergangenen Nächte kaum geschlafen, und in der letzten Nacht war sie nicht einmal eine Stunde im Bett gewesen.
Auf einer Wiese sah Therese ein großes Schild, das auf einen rohen Stamm genagelt war. Therese las: In diesem Ort sind Juden unerwünscht.
Therese fand endlich einen Gasthof, und sie ging hinein, auf ihre Trauerkleidung vertrauend, bereit zu jeder Szene. Im Flur, in dem es dunkel war und nach Zichorienkaffeeroch, begegnete ihr eine ältere Frau. Diese stutzte kurz, fragte dann, was Therese wolle. Schlafen, antwortete Therese und wartete ohne jede weitere Erklärung auf die Reaktion der Frau. Die fragte nicht weiter, nahm Thereses Tasche und ging vor ihr her die Treppen hoch bis in den zweiten Stock unters Dach, zeigte Therese eine Toilette und dann ein kleines Zimmer. »Wenn Sie sich schlafen legen, schließen Sie unbedingt von innen ab. Und öffnen Sie unter keinen Umständen, wenn jemand klopft. Ich passe schon auf, Sie müssen keine Sorge haben.«
Als Therese aufwachte, war es ebenso dunkel im Zimmer, wie es beim Einschlafen gewesen war. Klar, Verdunkelungspflicht. Auch auf dem Land, Therese konnte lange nichts im Raum erkennen, um so jäher jedoch wurde ihr klar, in welch trostloser Situation sie sich befand. Was sollte sie hier? Selbst wenn sie ungesehen aus diesem Gasthaus wieder herauskam – konnte sie wirklich zu diesem Gendarmerieposten gehen und die Lechners veranlassen, sie vor den Nationalsozialisten zu verstecken? Sie waren doch selber in der Partei. Ach Anni, dein Herz hat diesmal deinen Verstand um Längen geschlagen. Die Polizisten, die mit den Lechners im Haus lebten, konnten doch nicht eingeweiht werden! Wie sollte Thereses Existenz vor ihnen verborgen bleiben? Annis Plan war aberwitzig. Kaspar Lechner würde sofort an die Wand gestellt, wenn Therese entdeckt würde. Seine Frau käme ins Zuchthaus. Und der zehnjährige Bub – Therese wollte sich nicht ausmalen, was mit ihm geschehen würde. Sie brachte drei Menschen, denen sie fremd war, in Todesgefahr. Sie
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