Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
konnte unmöglich zu Lechners gehen. Doch – wo sollte sie hin? Thereses Herz klopfte, der Schweiß brach ihr aus. Sie mußte dringend auf die Toilette und öffnete daher vorsichtig die Tür ihres Zimmers. Von unten kamen Stimmen und das Klappern von Geschirr. Dazu roch es nach gebackenem Brotund nach Kraut. Therese wurde wieder hungrig. Auf der Toilette sah sie, daß sie ihre Tage hatte. Und mit einemmal fiel ihr Thalhuber ein. Die Umarmung am letzten Tag. Und sie bekam Sehnsucht nach ihm. Und nach Ivan. Ja, ganz heftig nach Ivan. Das war wohl das Jüdische an ihr, daß sie triebhaft war und Sehnsucht nach zwei Männern auf einmal hatte. An Leon dachte sie auch, und daß er jetzt Paula gehörte, dieser dicken arischen Schlummerrolle. Und daß Therese ihr Leon nicht gönnte, auch wenn sie nicht in ihn verliebt gewesen war. Geschlafen hatte sie doch gern mit Leon, und schließlich war er ihr Mann gewesen. Valeries Vater. Und wenn sie, Therese, hundert Männer gehabt hätte, sie hätte trotzdem Leon Paula nicht gegönnt.
Valerie. Der Gedanke an ihr Kind traf Therese wie ein Schlag. Warum liebt man sein Kind derart elementar, daß man niemals mehr davon loskommt? Hinter allen Gedanken hockt diese Liebe. Bereit, einen anzuspringen und die Krallen unheilbar tief einzuschlagen. Niemals wieder würde Therese ein Kind haben wollen. Niemals wieder einen Menschen liebhaben. Von einem Tag zum anderen ist man allein. Der Körper tut weh von all den Liebkosungen, die man zurückhalten muß. In einem Buch hatte Therese den Satz gelesen: Beschütz mein Herz vor Liebe. Ja – dachte Therese, wenn es eine Macht gibt, die mich beschützt, dann soll sie mich vor der Liebe beschützen. Vielleicht würde sie niemanden wiedersehen, niemanden. Keinen der Menschen, den sie geliebt hatte. Valerie nicht, Sybille und Mutter nicht. Weder Ivan noch Leon, noch Thalhuber. Ja, auch Thalhuber zählte. Obwohl sie nur wenige Worte miteinander wechseln konnten, obwohl ihre Gefühle hinter den grauen Kitteln versteckt bleiben mußten, Thalhuber zählte. In seiner Nähe war Therese ruhig gewesen. Wenn seine verschatteten Augen sie ansahen undsofort wieder losließen, dann wußte Therese, daß Thalhuber sie in seinen Gedanken besaß. Und es war ihr recht. Und Thalhuber wußte, daß es ihr recht gewesen war. Therese hatte wahrlich andere Probleme gehabt, als sich mit den Gefühlen Thalhubers auseinanderzusetzen. Dennoch wärmte und tröstete sie seine Existenz, und sie hätte freiwillig nicht auf ihn verzichtet. Daß Thalhubers Herkommen und Lebenskreis ihr völlig fremd waren, daß Thereses Gefühle für ihn ihre Familie wahrscheinlich entsetzt hätten, daß er kaum als passend gelten konnte, gerade das gefiel Therese an ihm.
»Ich bin’s«, rief jetzt die Stimme der Frau an der Tür, und Therese öffnete. Im Halbdunkel forschte sie im Gesicht ihrer Gastgeberin, die sie hier ohne zu fragen schlafen ließ und ihr jetzt auch noch Essen brachte. Kartoffeln, Kraut, einen Becher heiße Milch, ein Stück Brot. Während Therese aß, holte die Frau ihr eine Schüssel mit Wasser, dazu Seife, ein Handtuch.
Die Frau mochte Ende Fünfzig sein. Sie war groß, fast dürr. Ihr festes Haar war kurz geschnitten. Es war Therese heute früh schon aufgefallen, daß diese Frau auf eine strenge Art gut aussah. Wie kam sie wohl in dieses Gasthaus? Immerhin mußte sie berechtigt sein, hier ihre Nichten einzuquartieren, denn sie hatte Therese heute früh erklärt, daß sie sich als Mechthild Muhr ausgeben sollte, falls sie doch jemand entdecken würde. Das bedeutete doch, daß zumindest die Nichten dieser Frau im Haus nicht persönlich bekannt sein konnten. Gern hätte Therese der Frau etwas von ihrem Schmuck geschenkt, den sie im Mantel eingenäht hatte. Aber er kam ihr armselig vor, gemessen an dem, was die Frau für sie riskierte. Dieser Gedanke berührte Therese zutiefst, und sie dachte daran, daß nicht alle Menschen in Deutschland auf Hitler eingeschworen waren. Nicht alle schrien, daß er befehlen solle und sie würdenihm folgen. Wie oft hatte Therese sich gefragt, warum denn die Arier, von Anni, Tilda oder dem Metzger Hallhuber abgesehen, alles taten, was die Nationalsozialisten planten. Warum glaubten sie Hitler, der doch eindeutig nur auf den Krieg hinauswollte? Selbst jetzt, wo überall die Bomben fielen, die Menschen in Luftschutzkellern saßen, kaum mehr richtig satt wurden, selbst jetzt glaubten sie noch, daß Hitler für sie eine neue Welt schaffen würde.
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