Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
Sie fragte zwar niemals nach den Großeltern, aber sie vermißte sie sichtlich. Und Therese mochte das Kind auch nicht mit falscher Munterkeit zu täuschen suchen. Was konnte sie ihrem Kinde versprechen? Wo sie selbst keine Hoffnung mehr hatte. Nur noch gestohlene Minuten zwischen stinkenden Mülltonnen.
Auf ihrem Weg zurück in die Halle, am Fuß der Treppe, kam Thalhuber Therese entgegen. Er hatte sie zweifellos gesucht. Thereses Nackenhaare schienen sich aufzustellen, sie spürte eine Veränderung, eine bedrohliche Wolke. Thalhubers Gesicht war seltsam fahl, wie aufgerissen. Er zog Therese rasch mit sich, in einen rußigen Winkel unter der Treppe. Sie dachte flüchtig, daß es hier Ratten geben müsse, und ihre Zehen spreizten sich in unwillkürlicher Abwehr. Therese spürte die feuchtkalte Mauer in ihrem Rücken, an ihrem Hals den heftigen Atem des Mannes. Er roch nach Staub und Petroleum. Er roch gut. Er umklammerte Therese, wollte alles im letzten Moment. Und er sagte Therese, daß sie, ihre Mutter und ihre Schwester auf der Liste stünden, Else Behrend-Rosenfeld auch. Daß alle morgen aus dem Lager raus müßten nach Milbertshofen, daß sie abgeholt würden. »Du mußt weg, Therese, weg aus der Heimanlage, weg aus München.«
Seine Hände waren überall auf Therese. Die Zeit hatte es eingerichtet, daß er sie beschenken konnte. Sie war in seiner Schuld, doch sie hatte ihm nichts zu geben, außer ihren immer rascher verfallenden Körper unter dem grauen Kittel, ihre rissigen verstaubten Hände, das wirre verklebte Haar.
Therese war nicht mehr Therese. Sie war Sara. Thalhuberwußte das. Der Arier vergiftete sein erbgesundes Blut für immer. Thalhuber, dessen Schrei an Thereses Hals erstickte, lächelte wie im Fieber. Therese machte sich behutsam los. Sie waren quitt.
Therese ging wieder hinauf an ihren Arbeitsplatz. Stanzte weiter Teile für die Telefone und ließ das Rattern der Maschinen ungehindert in ihr Gehirn. Am Abend lief sie mit zwei anderen Frauen in die Heimanlage, die Kinder abzuholen. Valerie, Hänschen, Lorin. Vor dem Kindergarten standen zwei SS-Männer: »Ihr könnt hier nicht rein.«
»Doch, wir wollen unsere Kinder abholen, wie jeden Abend.« – »Die sind nicht mehr hier. Sind heute abtransportiert in den Osten.«
Therese sah Gerda, die neben ihr stand. Sie sah, wie alles Menschliche aus Gerdas Gesicht entwich. Gerda schlug den SS-Mann ins Gesicht: »Ihr Schweine, wo ist mein Kind?« Gerti und Therese wollten Gerda zurückreißen, da waren die Männer auch schon über ihr, und Therese konnte gerade noch wegrennen. Den Mund voller Schreie. Therese rannte und stolperte und suchte nach irgendeinem Gott, damit er die Welt anhalte.
Therese fühlte sich leer, wie ausgetrocknet. Eine Hülle, die denkt und handelt, aber nichts mehr fühlt. Ihre Seele war starr. Ihre Persönlichkeit wie von einer Riesenhand zusammengequetscht. Ihr Kind, Valerie, verschleppt. Thereses Welt war das Dunkel.
Sie stimmte nun, wo ihr alles sinnlos erschien, dem Fluchtplan Annis zu, von dem diese bei ihren hastigen geheimen Treffen immer wieder gesprochen hatte. Mutter und Sybille konnten auf einem abgelegenen Bauernhof in der Nähe von Passau unterkommen, bei einer Cousine von Anni. Ihr Mann war an der Front, und sie hatte sich seitWochen bereit erklärt, notfalls die Suttners zu verstecken. Therese hatte die Adresse eines Bruders von Anni, der im Isarwinkel wohnte.
Natürlich war die Flucht voller Risiken, doch was tat das jetzt noch. Sie legten Abschiedsbriefe auf ihre Pritschen, daß sie den Abtransport Valeries nicht verwinden könnten, daß sie daher nicht mehr leben wollten.
Als sie sich leise anzogen und aus dem Zimmer gingen, blieben die Zurückbleibenden still. Den Fluchtweg hatten sie sich kurz überlegt. Zwischen den Büschen im Obstgarten hindurch wollten sie zu einem großen, stark verzweigten Apfelbaum kriechen und dann, gehe es wie es wolle, von diesem Baum aus über die Mauer. Therese hatte Sorge, wie sie Mutter auf den Baum hinaufbringen sollten. Weit gefehlt. Kühl und entschlossen, als gelte es, eine Freitreppe hinaufzugehen, raffte Mutter Röcke und Mantel, stieg auf Thereses zusammengelegte Hände. Sybille schob nach und dann saß Mutter rittlings auf dem Ast, der ein Stück über die Klostermauer reichte. Mutter schob sich daran entlang, als habe sie niemals auf andere Weise einen Garten verlassen. Und ehe Sybille und Therese es faßten, hing sie schon hinter der Mauer an dem Ast. Sie
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