Besessen
Sie können gar nicht auf mich verzichten.“
Ihre Argumentation war bestechend. Allerdings wohl nur vor dem Hintergrund, dass unser Treffen mit dem General so katastrophal verlaufen war.
Anne schien mein Zögern als Angst zu deuten. „In letzter Zeit hat sie niemanden verletzt. Ihre Diät wurde geändert. Sie hatte zu viel Männerblut zu sich genommen, und das Testosteron machte sie unwirsch. Jetzt ist sie ganz sanft.“
Ich verspürte einen letzten Anflug von Vernunft. „Max hat mir eingeschärft, ich soll hier bleiben.“
„So?“ Anne sprang auf die Füße und ging hinter ihr Pult, wo sie einen Block Haftzettel herauskramte. „Hey, wir lassen ihm eine Nachricht da. Außerdem ist er im Arsenal. Da wird er eine Weile brauchen.“
„Männer können dem Glanz von neuem Spielzeug nicht widerstehen“, stimmte ich zu. „Aber er wird stinksauer sein.“
„Mach dir keine Sorgen. Ich weiß ihn zu nehmen. Eigentlich ist er gar nicht so hart.“ Sie kritzelte etwas auf das Papier und klebte den Zettel an ihren Computermonitor. Dann bot sie an, mir die Tasche abzunehmen. „Hier ist sie in Sicherheit“, sagte sie und verstaute sie unter ihrem Schreibtisch. „Viel hast du ja nicht mitgebracht.“
Ich folgte ihr zu einer Tür. „Max hat alles gepackt. Er hatte wohl nicht vor, lange zu bleiben. Wir reisen morgen Nacht ab.“
„Das ist schade.“ Sie zuckte die Achseln und zog ihre Kartedurch das Gerät. „Das Hotel, in dem sie euch einquartiert haben, ist wirklich schön.“
Schon dass wir überhaupt in einem Hotel wohnten, hatte mich erstaunt. „Ich dachte, ihr habt Untergrundwohnheime oder so was.“
„Oh, die haben wir“, versicherte mir Anne. „Aber nur für den Kader, der ständig in Bereitschaft sein muss. Wie ich zum Beispiel, oder die Ärzte, die sich um das Orakel kümmern. Die neuen Killer im Training und ihre Ausbilder wohnen da auch, aber nur vorübergehend.“
Ein großer dünner Mann mit Edgar-Allen-Poe-Frisur und Kutte kreuzte unseren Weg und nickte kurz. Anne winkte zurück und ging weiter.
„Du musst wirklich eine gute Rezeptionsdame sein, wenn sie dich die ganze Woche rund um die Uhr beschäftigen.“ Ich strich mit dem Finger über die Wände, an denen wir entlanggingen. Eine persönliche Marotte, die ich schon als Mensch gehabt hatte und mir abgewöhnen musste, als ich lernte, wie viele Krankheiten man auf diese Art aufnimmt. Nun, da Keime nicht mehr von Belang für meine Gesundheit waren, kümmerte mich das nicht mehr. Obwohl es Nathan wahnsinnig machte.
„Genau gesagt bin ich keine Empfangsdame, sondern mehr so was wie Miguel“, erklärte sie mir. Ich war ihr dankbar, dass sie meine Gedanken von meinem Schöpfer ablenkte.
„Max sagte, Miguel gehört zur Sicherheitstruppe. Dann warst du wohl auch eine Zeit lang als Killer im Einsatz?“
Anne nickte. „Dreihundert Jahre. In den Fünfzigern haben sie mich dann in den Ruhestand entlassen. Äh, in den Achtzehnhundertfünfzigern. Schade eigentlich. In dieser ganzen öden Zeit, wo Frauen nichts machen durften, damit ihre Gebärmutter ja nicht zu Schaden kommt, hat niemandeinem weiblichen Vampirjäger ins Auge gesehen.“
„Dreihundert Jahre? Warte mal …“ Ich legte meine Hand auf ihren Arm und bremste sie aus. „Nathan hat mir erzählt, die Bewegung ist zweihundert Jahre alt.“
„Schon, aber lange bevor wir uns Bewegung nannten, waren wir der Orden der Blutsbrüder. Das lässt sich bloß so schlecht abkürzen. Hey, die Bedingungen waren damals um einiges härter, das kann ich dir sagen.“
Jetzt drangen wir weiter in den Bau vor als auf der vorangegangen Tour. Der Bereich, in dem wir uns nun befanden, hatte kaum sichere Räume und deutlich mehr Sicherheitssperren. Schließlich erreichten wir eine große Doppeltür mit breiten schwarz-gelb gemusterten Streifen und überdimensionalen roten Warnschildern in verschiedenen Sprachen. Zusätzlich zum Kartenlesegerät bemerkte ich einen Handflächenscanner und eine Tastatur in der Wand.
„Dies ist die Sektion, die im Hauptquartier am besten gesichert ist“, erklärte Anne. „Nur hochrangige Funktionsträger und Sicherheitsleute haben Zutritt. Ja, und natürlich die Wissenschaftler, die das Orakel überwachen.“
„Wissenschaftler?“ Nervös kaute ich auf der Lippe, während ich ihr bei der Codeeingabe zusah. Ein englischsprachiger Hinweis auf der Tür warnte, dass ein falscher Code den Sicherheitsalarm auslösen würde, und ich konnte mich leider überhaupt nicht daran
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