Besessene
wieder ein eigenes Leben aufbauen … vielleicht war Genevieves Einfluss doch nicht durch und durch schlecht.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, erwiderte ich säuerlich. »Selbst wenn ich sie in meinem ganzen Leben nie mehr wiedersehen würde, wäre mir das noch zu wenig.«
Mum sprühte meine Frisur sorgfältig mit Haarspray ein und begutachtete sie wie ein Kunstwerk von allen Seiten. »So sehr lehnst du sie ab?«
Mit sprühenden Augen sagte ich: »Allerdings. Ich weiß, sie hat es nicht leicht gehabt, aber sie ist eingebildet, hinterhältig, verschlagen und manipulativ …«
»Oje!« Mum lachte nervös.
Ich warf ihr einen finsteren Blick zu. »Ich hoffe nur, sie verzieht sich auch wirklich bis ans andere Ende der Welt.«
»Wie bitte?«
»Ach … nichts.« Es war besser, nicht davon zu sprechen, dass Genevieve die Stadt verlassen wollte, bevor es nicht ganz sicher war, sonst würde Mum sich nur von Neuem schuldig fühlen.
Ich holte meinen Lieblingsmantel heraus, da Genevieve ja heute Abend nicht mit uns zusammen sein würde, und es war wunderbar, ihn wieder mal zu tragen: Es war, als würde ich von einem alten Freund umarmt. Mum winkte mir noch nach und ermahnte mich, vorsichtig zu sein, da es draußen glatt und für die nächsten Tage Schnee angekündigt worden war. Ich kam in meinen Turnschuhen klar, aber viele andere Leute waren nicht auf die Glätte eingestellt. So sah ich eine Frau auf Stilettos, die versuchte, sich an einer Hauswand entlangzuhangeln, und einen alten Mann, der die Arme wie ein Seiltänzer nach beiden Seiten ausgestreckt hatte, weil er an einer vereisten Stelle weder vor- noch rückwärtskam. Etliche Kinder rutschten begeistert auf den Gehwegen herum, was sie noch gefährlicher machte. Ich selber rutschte auf einer Stelle aus, an der Wasser aus einem alten undichten Abflussrohr tropfte, doch ich schaffte es, mich in der Senkrechten zu halten.
In Hannahs Haus brannten alle Lichter und die Vorhänge waren weit aufgezogen. Zwei Gesichter drückten sich an die Fensterscheibe und sahen mir schon entgegen. Dann stürzten Nat und Hannah zur Tür und zogen mich ins Haus. Beide waren bereits umgezogen – Hannah trugein eng anliegendes, elfenbeinfarbenes Satinkleid, das einmal das Hochzeitskleid ihrer Großmutter gewesen war, Nat einen schwarzen Hosenrock mit hoher Taille und eine weiße Bluse mit U-Ausschnitt , die sie sich von einer Tante ausgeliehen hatte, die fürs Stadttheater tätig war. Ich wurde von der gleichen wunderbaren Aufregung erfasst wie damals, wenn ich als Kind Mums Kleider und Make-up probiert hatte, wollte aber nicht zugeben, dass ich dabei immer alleine mit mir gewesen war.
»Deine Haare sehen super aus«, riefen die beiden im Chor, während sie mich, statt in Hannahs Wohnküche, wo wir normalerweise abhingen, ins Wohnzimmer bugsierten. »Jetzt zieh dein Kleid an, Katy.«
»Wieso habt ihr’s denn nur so eilig?«, fragte ich. Ich zog die Vorhänge zu und schälte mich leicht verlegen aus meiner Jeans heraus. »Wir haben doch noch den ganzen Abend Zeit.«
»Wir können es einfach nicht erwarten, dich zu schminken«, sagte Hannah ungeduldig.
Nat zog mir den Reißverschluss zu und ich wollte schon auf- und abstolzieren, als irgendeine Hand mich auf einen der Stühle drückte und mein Gesicht zum Licht hindrehte.
»Grundierung«, sagte Nat im Kommandoton. Hannah wühlte in ihrem Schminktäschchen und holte eine Puderdose heraus. Ich konnte nichts mehr sagen, weil Nat mein Gesicht bearbeitete und anschließend befahl: »Gib mir das Rouge, danach den Lidschatten.«
»Das ist ja hier wie im OP«, scherzte ich, als sie sich an meine Augen machte. Ich sah mir Nat aus der Nähe an undwarf dann einen Blick auf Hannah. »Moment mal …Wieso seid ihr eigentlich schon geschminkt?«
»Uns war so langweilig«, antwortete Nat. Sie attackierte mich so heftig mit der Wimperntusche, dass ich wie wild zu blinzeln anfing. Dann trat sie einen Schritt zurück, begutachtete ihr Werk und schien erleichtert zu sein, dass es vollendet war.
»So, bitte schön, Katy … du siehst fantastisch aus.«
Ich betrachtete mein Gesicht im Spiegel und musste zugeben, dass sie ganze Arbeit geleistet hatte. Meine Haut schimmerte, meine Augen blickten mir rauchgrau über rasiermesserscharf herausgearbeiteten Wangenknochen entgegen und die Konturen meiner Lippen waren auffällig betont. Ich holte meine Accessoires hervor, um die Gesamtoptik zur Vollendung zu bringen, und bemühte mich,
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