Besessene
eine lange SMS, in der ich ihm schrieb, was passiert war und wie sich das Rätsel schließlich gelöst hatte und in der ich ihm außerdem für all seine Hilfe dankte. Seltsamerweise schwang eine gewisse Traurigkeit in dieser Nachricht mit, denn wir beide waren ein so tolles Team gewesen. Letztlich hatte Luke doch recht behalten – an der Sache war nichts Mysteriöses oder Unerklärliches, sondern dahinter steckten lediglich die traurige Geschichte einer Frau, die mit ihrem Leben nicht zurechtgekommen war, und deren Folgen. Mum war nur eine Zuschauerin am Rande des Geschehens gewesen, in dessen Sog sie hineingeraten war und dessen Nachwirkungen man bis heute noch spüren konnte. Keiner wusste, wie Genevieve die Wahrheit herausgefunden hatte, aber das war auch nicht mehr von Bedeutung. Jetzt musste ich sie nur noch davon überzeugen, dass meine Mutter zu ihrem Besten gehandelt hatte und sie uns in Ruhe lassen sollte. Ende der Debatte – das war es, was jetzt dringend angesagt war.
Kapitel 35
D as Kleid war so hauchdünn, dass es wie feiner Sand durch meine Hände glitt. Ich würde all meine Geduld und sehr viel Ausdauer aufbringen müssen, um es instand zu setzen, und seine Farbe ganz genau zu treffen war unmöglich, weil sie sich je nach Lichteinfall veränderte. Kaum hatte ich ein passendes Garn gefunden, schien sie schon wieder eine andere Schattierung anzunehmen. Deshalb reparierte ich das Kleid von der Innenseite aus und ging wie bei einem Fadenspiel vor, um die ausgefransten Stoffteile behutsam wieder zusammenzufügen. Wäre das Gewebe heller gewesen, hätte das wahrscheinlich nicht funktioniert, aber zum Schluss war der Riss praktisch nicht mehr zu sehen.
Wir hatten uns darauf geeinigt, uns um circa sieben Uhr bei Hannah zu treffen. Mum wollte vorher noch wissen, was für ein Kleid ich mir gekauft hatte, und so zog ich es an, schwebte die Treppe herab und drehte mich unten einmal wirbelnd im Kreis.
»Oh … was für eine Veränderung! Du siehst fantastisch aus.«
»Wir haben heute Abend eine Art Kostümprobe für den Ball.«
Mum wirkte immer noch sehr abgespannt, gab sich aber alle Mühe, sich mit mir zu freuen. »Das wird bestimmt schön … ich glaube, ich muss irgendwo noch ein Paar lange Handschuhe haben.«
Ich klatschte aufgeregt in die Hände. »Oh ja, könntest du die vielleicht ausgraben und mir dann zeigen, wie ich meine Mähne bändigen und so hochstecken kann, dass sie elegant und mondän aussieht?«
Mum fand nicht nur die Handschuhe sofort, sondern auch ein Paar schwarze, hinten offene Satinschuhe mit Riemchen und Pfennigabsätzen sowie ein richtig cooles unechtes Perlenohrgehänge. Ich zog die Jeans wieder an und legte das Kleid in die Tasche, die ich mitnehmen wollte. Mum ging noch mal nach oben und kam mit einem Beutel voller Haarklammern, Spangen, Kämmen und Haarspray zurück und brachte ewig damit zu, mein dickes welliges Haar zu einer Frisur zu bändigen, die eine vage Ähnlichkeit mit der von Audrey Hepburn in
Frühstück bei Tiffany
, einer von Mums Lieblingsfilmen, hatte.
»Findest du nicht auch … dass sich so einiges verändert hat, seit Genevieve hier aufgetaucht ist?«, begann sie wieder zögernd das Gespräch.
»Na ja, schon«, sagte ich ächzend und zuckte zusammen, weil Mum meinen Kopf nach links zerrte.
»Du wirkst viel selbstbewusster … und bist nicht mehr so sehr …«
»Der Fußabtreter?«
»Nein, Katy, das war nicht das Wort, das ich meinte«, schimpfte Mum. »Du bist jetzt viel mehr du selbst.«
»Vielleicht«, stimmte ich ihr zu.
»Auch bei mir hat sich übrigens einiges geändert.«
»Ja?«
Mums geschickte Hände streiften meinen Hals. »Ich habe eingesehen, dass du inzwischen fast erwachsen bist und bald deine eigenen Wege gehen wirst. Vielleicht möchtest du ja studieren?«
»Darüber hab ich auch schon nachgedacht. Den für mich vermutlich besten Studiengang bieten sie in London an.«
»Gut, Katy, ich hab dich jetzt so lange für mich gehabt, dass es Zeit wird, dich gehen zu lassen.«
In Mums Stimme klang nicht eine Spur von Selbstmitleid mit, was ungewöhnlich für sie war. Ich hörte draußen eine Möwe kreischen und fuhr zusammen. Durchs Fenster sah ich, wie sie die Flügel ausbreitete und sich in den Winterhimmel aufschwang, und mir erschien es wie ein Zeichen dafür, dass Mum bereit war, mich in die Freiheit zu entlassen, damit ich meinen eigenen Weg einschlagen konnte.
»Du bist kein Kind mehr und ich muss mir auch
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