Besessene
Nähe war. Keiner von uns sagte etwas. Ein Jahrhundert zuvor wäre ich jetzt vermutlich in Ohnmacht gefallen, weil mein Korsett zu eng gewesen wäre, und Merlin – der wie ein verträumter romantischer Held aussah – hätte mich in seine Arme gerissen, als wäre ich leicht wieeine Feder. Aber von uns Mädels heutzutage erwartete man nicht mehr, dass wir ohnmächtig wurden, nur weil wir neben einem Angehörigen des anderen Geschlechts standen. Merlin begann mit einem Finger meine Handfläche zu streicheln, ein weiterer folgte. Mein Herz fing an zu rasen und meine Hand glitt in seine, aber noch standen wir beide steif da und sahen aus dem Fenster.
Warum musste es immer so laufen? Auf einmal konnte ich es nicht mehr ertragen – dieses Mal musste ich etwas sagen.
»Warum küsst du mich nicht einfach?«, platzte ich heraus.
Ich konnte selbst nicht fassen, was ich da gesagt hatte, doch es schien das Eis zu brechen. Er wandte sich mir zu und senkte langsam den Kopf und seine 1,86 Meter meinen 1,65 Metern entgegen, bis sich unsere Lippen berührten und der ganze Raum sich in ein Kaleidoskop der unterschiedlichsten Farben verwandelte.
»Dieser Kuss war das Warten wert, Katy.« Ein Lächeln erhellte sein schönes Gesicht wie die Sonne, die eine Wolke durchbricht.
»Du hast darauf gewartet, dass wir uns küssen?«
Merlin antwortete mit nur einem einzigen wunderbaren Wort: »Sehr.«
Ich aber brauchte noch mehr Bestätigung. »Wann hast du denn zum ersten Mal daran gedacht?«
Merlin seufzte. »Als du das erste Mal an mir vorbeigegangen bist, habe ich gespürt, dass etwas ganz Merkwürdiges passiert. Ich habe mich zu dir hingezogen gefühlt, als ob du … ein Magnet wärst.«
Ich bemühte mich, nicht wie eine Schwachsinnige zu grinsen, scheiterte allerdings kläglich. Außerdem war Merlin mit seinen Komplimenten noch nicht am Ende.
»Und du warst von einem hellen Schein umgeben. Das klingt bescheuert, oder?«
»Nein. Erstaunlich.« Das war eindeutig eine Untertreibung, denn vor lauter Seligkeit hätte ich auf der Stelle tot umfallen können. Nervös betrachtete ich meine Füße. »Heißt das, dass wir … du weißt schon … dass wir ab jetzt zusammen sind?«
Er drückte meine Hand und sah mir in die Augen. »Wir
sind
zusammen.« Nicht eine Sekunde lang schweifte sein Blick ab und ich ließ mich in seine Intensität hineinziehen, bemerkte den vollkommenen Bogen seiner Augenbrauen und seine absurd dichten Wimpern. »Ich muss dir übrigens was sagen.«
»Was denn?«
Er zögerte einen kurzen Augenblick. »Das Bild, an dem ich arbeite … ist ein Porträt von dir.«
Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. »Und wann kann ich es sehen?«, fragte ich schließlich.
»Erst wenn es fertig ist … ich male es aus dem Gedächtnis.«
Die Vorstellung, dass er mein Gesicht schon gut genug kannte, um es malen zu können, war mehr als überwältigend. Ich hätte diesen Moment so gerne ausgekostet, aber Merlin machte abrupt einen Vorschlag, der beinahe schon wie ein Befehl klang. »Lass uns nach draußen gehen.«
Ich hatte gerade noch Zeit, nach meiner Tasche zu greifen, da wurde ich auch schon aus seinem Atelier und dreiStockwerke die Treppe hinuntergezogen. »Wohin denn?«, fragte ich keuchend.
»Egal.«
Nur flüchtig bekam ich noch Merlins Mutter zu sehen, die gerade ihren Kunstkurs in den Wintergarten führte, danach das Wohnzimmer mit seinen nicht harmonisierenden Möbeln, den knallbunten Leinwänden und den Orientteppichen, das Esszimmer mit seinem riesigen Tapeziertisch und die Küche mit ihrem original gusseisernen Herd, den Natursteinplatten und der gigantischen Anrichte. In einer Ecke entdeckte ich zwei äußerst mäusefreundliche Fallen und mir kam der seltsame Gedanke, dass selbst das Ungeziefer in Merlins Haus wahrscheinlich mehr als cool war.
Schließlich standen wir draußen auf der Straße und sogen die letzten sommerlichen Sonnenstrahlen in uns auf, was irgendwie besonders und wie ein Abschied von der Sonne schien, bevor der Winter allem ein Ende machte. Wir schlenderten den Kanal entlang und weiter durch die Bahnunterführung in die Stadt hinein. Merlin hob sich auffallend von den anderen Passanten ab und die Leute starrten erst ihn und dann mich an, weil ich seine Begleiterin war. Ich lachte und ging so dicht wie möglich neben ihm. Wir erreichten das »La Tasse«, eine angesagte Espressobar voller Geschäftsleute mit Laptops und Damen, die ihren Lunch einnahmen, und
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