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Bestialisch

Titel: Bestialisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.A. Kerley
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meine?«
    »Nein, eigentlich nicht«, antwortet der Knabe nach einer längeren Pause.
    »Dieser Ausbruch hat mich an Wasser erinnert, das sich hinter einem Damm staut. Das kannst du dir doch vorstellen, oder?«
    Der Junge bewegt den Kopf unmerklich und nickt. Der Fahrer spricht weiter.
    »Der Damm hält das Wasser zurück, staut es im Becken, bändigt die Fluten. Doch gegen den Regen ist der Damm machtlos. Stell dir mal vor, es regnet Tag und Nacht. Der Wasserspiegel steigt, das Becken droht überzulaufen. Das kannst du doch nachvollziehen, oder? Kennst du dieses Gefühl vielleicht?«
    »Ja.« Der Junge spricht so leise, dass seine Antwort beinah im Summen der Insekten untergeht.
    »Der Damm ist stark und möchte halten, aber es regnet unaufhörlich. Das Wasser steigt, stößt an die Ränder des Beckens. Und was passiert dann deiner Meinung nach?«
    Der Junge verzieht vor Angst die Miene. Seine Augen werden feucht. Eine einzelne Träne kullert ihm über die Wange.
    »Es regnet weiter, und der Damm bricht.«
    Der Mann streckt die Hand aus und wischt mit dem Daumen die Träne weg.
    »Nein, mein Sohn. Die Schleusen öffnen sich gerade im richtigen Moment und sorgen dafür, dass der Damm nicht bricht.«

Kapitel 1
    Dies war der Morgen, an dem ich – Detective Carson Ryder vom Police Department in Mobile, Alabama – innerhalb einer knappen halben Stunde gleich mehrmals Neuland betrat.
    Ich landete zum ersten Mal auf dem LaGuardia Airport, wurde zum ersten Mal in meinem Leben direkt von einer Boeing 737 abgeholt, während die anderen Passagiere noch sitzen bleiben mussten. Ich wurde erstmals von Sicherheitsbeamten durch ein Flughafengebäude geschleust und fuhr zum ersten Mal in einem Streifenwagen mit eingeschalteter Sirene durch ein graues, verregnetes Manhattan.
    »Würde mir mal jemand verraten, worum es hier eigentlich geht?«, fragte ich meinen Fahrer, auf dessen Namensschild Sergeant Koslowski stand. Wir schlitterten schräg über eine Kreuzung. Um Haaresbreite wären wir mit einem Taxi zusammengestoßen, hätte Koslowski nicht in allerletzter Sekunde das Steuer herumgerissen und Vollgas gegeben. Die gelangweilte Miene des Taxifahrers stimmte mich nachdenklich. Ob es wohl irgendetwas gab, womit man einen New Yorker Taxifahrer aus der Ruhe bringen konnte?
    »Da mir keiner was gesagt hat«, knurrte Koslowski, »kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.« Das Knurren passte zu diesem Mann, der an eine Bulldogge in Uniform erinnerte.
    »Was hat man Ihnen denn gesagt?«, erkundigte ich mich.
    »Dass ich Sie am Flughafen abholen und irgendwo im Village absetzen soll. So, und jetzt sind Sie genauso schlau wie ich.«
    Noch vor zwei Stunden hatte ich in Mobile an meinem Schreibtisch gesessen, Kaffee getrunken und darauf gewartet, dass mein Partner Harry Nautilus zur Arbeit erschien. Und dann hatte mich mein Vorgesetzter, Lieutenant Tom Mason, ganz unvermittelt in sein Büro gerufen und die Tür geschlossen. Der Hörer seines Telefons lag nicht auf der Gabel, sondern neben dem Apparat.
    »Sie haben einen neuen Fall, Carson. In zwanzig Minuten gebt Ihr Flug nach New York. Das Ticket ist für Sie am Schalter hinterlegt, und die Maschine wartet wahrscheinlich auf Sie.«
    »Was soll das denn? Ich kann doch nicht so einfach alles stehen und liegen …«
    »Draußen steht ein Streifenwagen bereit, der Sie fährt. Los jetzt.«
    Koslowski schlitterte wieder quer über die Fahrbahn und bog in eine kleine Straße. Vor einem dreistöckigen Backsteingebäude trat er mit voller Kraft auf die Bremse. Wir rutschten an vier Funkstreifen mit eingeschaltetem Blaulicht, dem Kombi von der Spurensicherung und einem Wagen vorbei, der – wie ich mutmaßte – als mobile Kommandozentrale diente. Der Gerichtsmediziner war auch schon vor Ort. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sich hier zugetragen hatte, aber eins stand fest: Jemand hatte die ganze Truppe zusammengetrommelt.
    Ein korpulenter Mann mit tief ins Gesicht gezogenem Hut und grauem Regenmantel, der im Wind flatterte, näherte sich uns und öffnete die Beifahrertür. Ich stieg aus.
    Er war Ende fünfzig, hatte ein rundes Gesicht, eine große Hakennase und sah so verbissen drein wie ein Bluthund, der Witterung aufgenommen hatte. Dieser Mann mit den Tränensäcken und schweren Lidern schaute vermutlich auch dann noch traurig aus der Wäsche, wenn eine Frau Ja sagte. Im Gegensatz zu allen anderen schien er es überhaupt nicht eilig zu haben. Er begrüßte mich mit ausgestreckter Hand: »Ich

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