Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)
sein seidig-weiches Gefieder einen geräuschlos gradlinigen Flug ermöglicht, ist der Kopf mit den asymmetrisch angebrachten Ohren eine Hilfe beim Erlegen der Beute; meist sind es Mäuse, die mit den Krallen («Der Zeh») erlegt werden, nachdem ihr Rascheln selbst unter einer Schneedecke «abgehört» wurde. Man nennt den eleganten Flug – bei schwindendem Tageslicht – auch «Spieltrieb», obwohl diese Bezeichnung anfangs nur auf die Jungvögel angewandt wurde, die das Weibchen in einer sogenannten «Schachtelbrut» betreut, nämlich in bestimmten zeitlichen Intervallen. Spezifisch für das Brut- und Paarungsverhalten ist, daß die Männchen treu sind, die Weibchen dagegen umherziehen und sich rasch mit anderen Männchen paaren.
Raddatz, der
Der Prachtleierschwanz hat über viele Jahre hinweg Stoff für Legenden geliefert. So hat ein Anwalt, der seinerseits Belletristik verfaßte, ihn als «besten Sänger unter den Vögeln» bezeichnet und ihm Begabung für vielerlei Sprachmelodien bescheinigt: Spott-Töne des Wippflöters wie zarte Balzlaute, die an die Melodien der Glockenmeinate gemahnen. Der literatursinnige Anwalt hat sogar unter dem Titel «The Lore of the Lyrebird» eine CD bei einem führenden Reinbeker Verlag herausgegeben. Das Begleitheft zitiert Elias Canetti mit der Schilderung, wie der auch Menura-Hahn oder scherzhaft «Nicolaj» genannte Vogel treuer Begleiter einer Dame auf ihrem weitläufigen Anwesen wurde – obwohl die Mär von der Monogamie des sehr eitlen Tieres einer Überprüfung nicht standhält. Vielmehr stülpt der gerne vor spiegelndem Wasser Kokettierende den imposanten Sturz seines pfauenähnlichen Schwanzgefieders beim Kopulieren über seinen und des Weibchens gesamten Körper, was ein Forscher «monströse Schönheit» nannte, während ein außereuropäischer Kollege es als «einen Akt der Ästhetik» bezeichnete, der «die Biologie und ihre Logik in den Schatten stellt». Das gilt als Anspielung darauf, daß der sexuelle Appetit – was sonst nur von Erpeln bekannt ist – sich durchaus auch auf das eigene Geschlecht konzentrieren kann. Diese «Leierschwanz-Facetten» täuschen allerdings darüber hinweg, daß das eigentlich scheue Tier gegen Feinde äußerst aggressiv ist, die es durch eine übelriechende Ausscheidung betäubt, um dann mit stolzgeschwungenen langen Schwanzfedern in Siegerpose den Kampfplatz zu verlassen.
Editorische Notiz
Dies ist keine Literaturgeschichte. Es ist ein Schmunzel-Brevier.
Der Titel meines kleinen Märchenbuches ist nicht ganz korrekt; wenn nicht gar fahrlässig. Zum einen zählen ja – so hört man immer wieder – auch Thomas Mann, Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke zur «deutschen Literatur». Hier verwandelt wurden also nur Zeitgenossen.
Zum anderen sind weder Peter Handke noch Max Frisch «deutsche Autoren»: allein, ein Titel wie «deutschsprachige Literatur» klang dem Verlag wie dem Autor allzu sehr nach Oberseminar.
So nahmen wir es als ermunternden Trost, als Daniel Kehlmann sagte, er sehe sich als «deutschen Autor», habe immer eine Abneigung gegen das Wort «deutschsprachig» gehabt.
F. J. R.
Benutztes Material
Als Material für diese Satiren habe ich – gelegentlich zitierend – benutzt:
URANIA TIERREICH in sechs Bänden
hier: Säugetiere
Urania-Verlag, 1. Aufl. 1992, Leipzig, Jena, Berlin
Grzimeks Enzyklopädie
Band 1: Säugetiere
Kindler Verlag, 1988, München
Grzimeks Enzyklopädie
Band 2: Säugetiere
Kindler Verlag, 1988, München
Grzimeks Enzyklopädie
Band 3: Säugetiere
Kindler Verlag, 1988, München
Grzimeks Enzyklopädie
Band 4: Säugetiere
Kindler Verlag, 1987, München
Grzimeks Enzyklopädie
Band 5: Säugetiere
Kindler Verlag, 1988, München
BREHMS TIERLEBEN
Neue Gesamtausgabe in Farbe und in Naturaufnahmen
Ausgew. und neu bearbeitet von Dr. W. Bardorff und H. W. Brehm
Safari Verlag, 1973, Berlin
Dazu: diverse Wissenschaftsbeilagen in
Wochen- und Tageszeitungen
Informationen zum Buch
Inzwischen ist es knapp hundert Jahre alt: Franz Bleis «Großes Bestiarium der Literatur», jenes legendäre Buch aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das bei Rowohlt viele Auflagen erlebt hat.
Ein neues Bestiarium tritt ihm jetzt an die Seite. Fritz J. Raddatz hat es verfaßt: mit dem nachlässigen Glanz liebevoller Parodie und dem scharfen Blick der Satire, mit Hellsicht, mit Witz, mit märchenhaften, ja phantastischen Pointen
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