Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)
erlaubt, soviel Nährstoffe wie möglich aus allerlei gerupftem Geäst und Gezweig hochzuwürgen und ein zweites Mal zu kauen. Im Unterschied zu anderen Wiederkäuern kann das Tier beim Wiederkäuen laufen; so bietet sich ihm reichlich Zeit zum Fressen, womit es täglich 12 bis 20 Stunden verbringt. Beobachter sprachen von «Arbeit», als sie sahen, wie das Okapi mit seinen muskulösen Lippen nicht nur junge Triebe rupfte, sondern auch trockene Blätter zu Cigarrenform rollte; eine besondere Leberfunktion schützt vor dem Gift von Vorgefundenem. Da das Okapi schlecht sieht, aber gut hören kann, wird es gerne und oft für zirzensische Veranstaltungen eingesetzt und mit raffiniert funktionierenden Punktstrahlern ausgeleuchtet.
Müller, die
Zu Unrecht im Volksmund als Giftnatter bezeichnete ungiftige Viper, die aber – um Feinde abzuschrecken – über die perfekte Mimikry gebietet: Sie ähnelt in Form und Farbe den gefährlichen Baum- und Würgeschlangen. Das schmale und flinke Tier ist offenbar eine nach dem Balkan abgewanderte Abart der Abgottschlange, deren Schwanz noch verkümmerte Reste von Beinen aufweist, weswegen die Forschung annimmt, sie habe sich vor Urzeiten aus Echsen entwickelt; diese bis zu zehn Meter lange Riesenboa kann große Säuger erlegen und verdauen, also Wasserschweine, Hirsche, Kaimane. Unsere harmlose Variante hat vor allem raffinierte Verteidigungsstrategien. So kann sie dank Infrarotrezeptoren die Wärme von Verfolgern wahrnehmen oder sie abschrecken, indem sie – wie ansonsten nur bei Kobras bekannt – die Rippen als Schild abspreizt, um größer zu erscheinen. Bei einigen der Weibchen sitzen auf der Rückseite ihres Schildes große augenähnliche Flecken, die ihren Feinden suggerieren, sie wären mächtiger und wehrhafter, als sie es in Wirklichkeit sind. Ähnlich anderen Artgenossen – etwa der Bullennatter – stößt sie bei Gefahr Luft aus den Tracheen aus, wodurch ein Knorpel in Schwingung versetzt wird, ähnlich dem Kugelkopf einer Schreibmaschine, und es entsteht ein Laut wie raschelndes Papier. Die durch viele Finten ihren Kopf schützende Schlange ist inzwischen in ihrem Lebensraum gefährdet, weil ihre schön gemusterte Haut gerne zu Uniformgürteln verarbeitet wird.
Muschg, das
Das Muschg ist ein durch besonders schönes Fell auffallendes Murmeltier aus der Gegend der Graubündner Alpen. Es gilt im Unterschied zu den als dumm verschrienen Eichhörnchen – die oft vergessen, wo sie ihre Wintervorratsnüsse versteckt haben – als intelligent, zahm und gesellig. Das Fell ist nicht kostbar, es werden ihm aber heilende Kräfte zugeschrieben, weswegen es zu allerlei Therapiezwecken verwendet wird. Das Muschg ist wegen seiner durchdringenden Pfeiftöne, die es in Fällen von Gefahr oder Bedrohungsgefühlen ausstößt, bei den Einheimischen nicht sehr beliebt; sie suchen es zu vertreiben oder sehen in ihm einen bevorzugten Exportartikel. Hauptmarkt ist Frankfurt am Main.
Ortheil, der
Der Hoatzin wird vom saloppen Journalisten auch als «fliegende Kuh des Regenwalds» bezeichnet. Damit sollen wohl die Flugrouten des weitgehend unerforschten Vogels beschrieben werden, von dem einige seltene Exemplare vom Westerwald bis Rom unterwegs sind. Die seriösere Beschreibung des amerikanischen Naturforschers William Beebe kommt dem Rätsel der Evolution etwas näher: «Der Flug des Hoatzin erinnert an ein überfressenes Huhn. Sein Ruf ist ungefähr so melodiös wie der Schrei des Pfaus und nicht ganz so sonor wie das Brüllen eines Alligators.» Damit spielt der Wissenschaftler darauf an, daß der Jungvogel – der sich in unseren Breiten gerne bei Bauern und Gastwirten versteckt – anfangs stumm ist; wie übrigens auch manche der Muttertiere über längere Zeitspannen. Beide verständigen sich jedoch mit Hilfe von Lauten des Flügelschlags, die an leise Klaviermusik erinnern. Andere Beobachter sprechen von Liebeskummer, der durch die befremdliche wie zart rhythmisierte Federsprache zum Ausdruck komme. Wegen dieser zugleich putzigen und geheimnisvollen Artikulation des – vor dem Abflug nach Rom – oft in heimischen Bäumen kletternden und nistenden Vogels mit den krallenbewehrten Flügeln spricht der amerikanische Experte vom Hoatzin auch als dem «wohl bemerkenswertesten und interessantesten Vogel, der heute auf der Erde zu finden ist».
Politycki, der
Der Mauersegler, den man auch «Meister der Aerodynamik» nennt, ist in gewisser Weise ein internationales Tier. Mit seinen
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