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Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Titel: Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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genannt, der als das gefürchtetste aller Raubtiere Amerikas gilt. Ein seltenes Paar Jungtiere der schwarzen Spielart wurde dem Polizeiminister einer osteuropäischen Diktatur bei einem der sogenannten «Freundschaftsbesuche» in Lateinamerika geschenkt. In seinem weitläufigen Bonzenanwesen zog er die Tiere auf, das Weibchen – mit besonders scharfen Sinnen ausgestattet, stark und wild – brach aus und versetzte die in dichten Wäldern gelegene Privilegiertensiedlung in Angst und Schrecken. Obwohl nicht sehr groß, gilt vor allem das weibliche Tier als furchtbarer Räuber von enormer Kraft und geschmeidiger Geschwindigkeit. Zum Entsetzen der bewaffneten Grenzbeamten stürzte sich die Bestie auf das Jagdgespann des Staatsoberhaupts, erlegte eines der beiden Kutschpferde, schleppte die zusammengekoppelten Tiere – das eine zuerst noch lebend – samt der zerbrochenen Deichsel über einen Brachacker und über den Grenzfluss; die zu spät abgefeuerten Kalaschnikow-Salven verhinderten nicht, daß die schwarzgemusterte Wilde fast höhnisch mit lautem Gebrüll reagierte. Sie fraß von beiden Pferden das Fleisch – und ließ wie verächtlich die Kadaver liegen. Nie kehrt ein Jaguar zu Resten zurück.

Mayröcker, der
    Hybride. So bezeichnen Wissenschaftler nach neuesten Erkenntnissen Lebewesen des Tierreichs, die sich gegen alle Gefährdungen der Umwelt durch eine bislang unbekannte Form der Evolution erhalten: die Kreuzung zweier Arten, die nur vermittels dieses Artensprungs überleben. Solche Tiere entziehen sich jeder von Menschenhand gemachten Bedrohung und verweigern jegliche Erziehung zur Possierlichkeit. Es wurden Schwarzspitzenhaie beobachtet, die aus der Kreuzung mit anderen Hai-Arten hervorgingen, kleiner, wendiger und offensichtlich intelligenter waren: Sie schlüpften durch die an Zeitungsspalten erinnernden feinmaschigen Netze der Fischer, verweigerten die Nahrungsaufnahme in jenen obligaten Glasaquarien, die wie Verlagsgebäude aussehen, und tauchten bei Applaus weg. Hybriden trotzen der Umweltzerstörung des alltäglichen Tam-Tams, Gesäusels und Gedudels. Sie sind eine ganz eigene Kategorie, was einen Tierexperten vom «Ende des tradierten Artenbegriffs» sprechen ließ. Tatsächlich gilt es als erwiesen, daß Jaguar und Leopard, Löwe und Tiger inzwischen miteinander fruchtbare Nachkommen zeugen. Mangels naturwissenschaftlicher Nomenklatur nennt man sie «Gedichte». Eine ganz besondere Spezies ist der zu den Kleinkatzen gehörende Silberlöwe, auch Puma oder Kuguar genannt, der zu eindringlichen Klagelauten fähig ist. Eine österreichische Expertise kommt zu der Schlußfolgerung: «Der Silberlöwe kommt leise zum Ziel. Denn anders als die Großkatzen kann er nicht brüllen.»

Mosebach, der
    Der oft «Andenflamingo» genannte Vogel – obwohl er u.   a. zahlreich in der Camargue vorkommt – ist eines der graziösesten Tiere überhaupt; sein gravitätischer Gang läßt vermuten, er sei sich seiner Schönheit bewußt, wiewohl er sich seiner rötlichen Färbung zu genieren scheint. Beides – das stolzierende Schreiten wie die rosa bis rote Färbung des Gefieders – verdankt sich jedoch durchaus natürlichen Ursachen: Ersteres, weil der Flamingo seine langen Beine nicht einknickt, vielmehr zum Fressen den ungewöhnlich langen Hals gleichsam herrisch beugt und mit dem stark gebogenen Schnabel kleinere Krebstiere, Einzeller und Algen aus dem Wasser aufnimmt. Die prunkvolle Färbung indes entsteht durch das Karotin in Pflanzen und Plankton, das Enzyme in der Leber des Flamingos zu Farbpigmenten verarbeiten.
    Deshalb wird das Bestaunen des Tieres oft als irrtümlicher Applaus verächtlich gemacht. Erst jüngst quittierte ein Ornithologenkongreß mißmutig die Preisverleihung durch eine Jury, die den Vogel einzigartig nannte, als Irrtum irregeführter Laien, die nicht wahrhaben wollten, daß der Flamingo nur eine Salzwassersumpf-Stelze sei.

Müller, das
    Okapi. Bildet mit dem einzig nahen Verwandten, der Giraffe, die Familie der Giraffidae , wirkt aber wie die Kopie eines berühmteren Tieres. Das schwarzweiß gestreifte Hinterteil (ähnliche Streifen an den Vorderpfoten) erinnert an das Zebra – und gleicht damit einer Nachahmung. Dabei teilt das Okapi viele Gemeinsamkeiten mit der wesentlich größeren Giraffe: Es hat dieselben ungefährlichen, fellbezogenen Hörner, dieselbe lange schwarze Zunge, mit der es Nahrung ins Maul ziehen kann. Das Okapi hat einen vierkammerigen Wiederkäuermagen, der ihm

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