Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)
Dieser besonders schöne Fisch mit so ausdrucksvollen Augen, daß sie beim Futterschnappen stets etwas vorwurfsvoll wirken, stammt ursprünglich aus Ostasien. Touristen, auf deren T-Shirts der Aufdruck «Mein Hund, meine Sau, mein Leben» zu lesen war, haben den zaubrisch-funkelnden und in den apartesten Farben glänzenden Fisch nach Süddeutschland importiert, wo er zwischen Schwackenreute, Meßkirch und Rast heimisch wurde. Betrachter an Brückengeländern oder Teichufern sprechen indes von «Heimatsüchtigkeit», und einige wollen beobachtet haben, daß den gerne an der Wasseroberfläche durcheinanderwirbelnden Fischen in der europäischen Kleinräumigkeit «Flügel verliehen» wurden. Andere Beobachter, vor allem Frauen und Kinder, sehen sich wie in eine Märchenwelt eingelullt, wenn sie den klein-flinken oder auch behäbig-großen Wasserbewohnern zuschauen, die umeinandergleiten in locker angeordneten Formationen, als kämen sie direkt aus dem Himmelreich oder einer fernen Ewigkeit. Der Koi ist sein eigenes Wunder, einzigartig, die Menschen durch seine scheinbar naive Anmut an die eigene moralische Verknorztheit wie an schmerzliches Liebesbedürfnis gemahnend.
Strauß, der
Irrtümliche Bezeichnung für eine seltene, hochgewachsene Pfauen-Art; das Exemplar Botho, ganz in Weiß, hat statt der sprichwörtlichen strahlenden Pfauenaugen Schwanzfedern, die es stets einer Schleppe gleich hinter sich herzieht. Diese Sonderbarkeit läßt viele Betrachter in ein erstauntes «oh wonder» ausbrechen, zumal das durchweg einsam auftretende Tier sich in einer Mischung aus gravitätischem Stelzen und spöttisch wirkendem Hüpfen fortbewegt. Es sieht fast so aus, als zitiere es die Gangart anderer Vögel. Kopfwipper. Ein gelegentlich zu beobachtendes Anschwellen des Kammes geht der hektischen Suche nach Wasser voraus; aber so wenig das scheinbar stimmlose Tier je einen Laut von sich gibt, so versunken verhält es vor jedem Wasserspiegel, aus dem es keineswegs trinkt; vielmehr kann mit stundenlang geschwollenem Kamm der prunkvoll aussehende Vogel in das Wasser blicken, vor dem er allenfalls hin- und herparadiert. Übrigens andere Tiere und auch Menschen vollkommen ignorierend. Der Strauß vermittelt den Eindruck gleichgültiger Unnahbarkeit. Wurde noch nie bei der Paarung beobachtet.
Strubel, die
Lumme. Diese bemerkenswert begabten Vögel üben den «Lummensprung», was bedeutet, daß die Altvögel nachts, an felsigen Steilküsten hoch über dem Meer, diejenigen ihrer Jungen, die noch nicht fliegen können, aus dem Nest werfen. Trottellummen lernen das Schwimmen vor dem Fliegen. Die Kleinen brechen sich nicht das Genick, sie sind mit einer Art Luftkissen um die Knochen gepolstert. Die klugen Eltern – auch die männlichen Vögel brüten oft über den türkisfarbenen Eiern – warten die Dunkelheit ab, weil sonst Möwen die Küken aus der Luft wegfangen würden.
Die japanische Filmfirma Fisher Industries hat einen atemberaubend schönen Film gedreht, eine Mischung aus Documentary und Fiction, in dem das taumelnde Stürzen der kleinen flauschigen Bälle und das die Luft zerfetzende Schreien der Altvögel, die seltsame Verbeugung aufgeregter Männchen, der trudelnde Schmetterlingsflug der Mütter, wenn sie ihrer Brut frisch gefangenen Fisch ins Nest bringen, in hochkünstlerischer Form präsentiert wird. Der Film mit dem doppeldeutigen Titel «Der Wonneflug» wurde der fiktiven Szenen wegen in arabischen und einigen asiatischen Ländern verboten. In diese Szenen hatte der Regisseur sexuelle Sequenzen einmontiert: So masturbierte ein junger Ornithologe unentwegt im Rhythmus des anschwellenden Meeres vor Gotland, sein Glied per Zoom riesig wie ein Leuchtturm und die Entladung machtvoll wie die anbrandende Gischt. Auch der nächtliche Koitus des 22Jährigen mit einer 41jährigen Forscherin, unterlegt mit dem musikalischen Sausen peitschender Lummenflügel, galt als anstößig.
Süskind, das
Das Süskind, in der wissenschaftlichen Literatur gelegentlich auch unter dem Namen «Noli me tangere» behandelt, ist eine kapriziös-seltene, vielarmige Variante des Tintenfisches. Das wendige Tier zu fassen ist schwierig, weil es sich auf der Flucht in jeweils seiner Umwelt angepaßte farbige und stark riechende Tintenwolken hüllt − im Schwarzen Meer schwarz, im Roten Meer rot, im Gelben Meer gelb, im Toten Meer tot. Es existieren verschiedene Untergattungen, etwa an der südfranzösischen Mittelmeerküste, deren man aber selten
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