Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)
habhaft wurde. Nur in China ist das dort so genannte «Pattlig» Volksnahrung, die auf langen dünnen Leinen getrocknet wird; die bleistiftförmig schnurgerade gedörrten Fangarme werden von den chinesischen Kindern bei der Einübung der ersten Tuschzeichen benutzt; zusammengerollt, einem parfümierten Radiergummi ähnlich, auch als Riechkugel. Das «Pattlig» ist dort Einschulungsgeschenk wie in Deutschland ein «Pelikan» oder in den USA ein «Parker». Durch die Chinesen gelangte der polyglotte Wegtauchfisch an die Westküste Amerikas, wo man − vor allem in San Franzisko − in jedem Fischrestaurant «a Pattlig, please» bestellen kann; das ist ein rötlich-braunes Pulver, an Pfeffer erinnernd, das zerstoßen serviert wird oder, in den besseren Häusern am Fisherman’s Wharf dann auch in Gelb, Violett und Türkis angeboten, in pfeffermühlenartigen Plexiglasgeräten die ansonsten geschmacklose Clam Chowder würzt.
Suter, das
Das Murmeltier, nicht die Uhr, nicht der Käse, ziert das Schweizer Wappen; es ist auch beliebt als ein bekömmliches Nationalgericht. Sein großes Aufkommen führte dazu, daß das niedliche und wieselige Tier – ähnlich dem Meerschweinchen in lateinamerikanischen Ländern – gejagt und zu köstlichen Speisen verarbeitet werden darf. Der berühmteste Koch der Eidgenossen, einem Millionenpublikum bekannt, hat in seiner Sendung «Etwas sieht aus wie eine Mousse, schmeckt aber nach Schweinebraten» die verschiedensten Rezepte für die Zubereitung von Murmeltiervariationen populär gemacht. So empfahl er einen Rotationsverdampfer der Firma Büchi, mit dessen Hilfe er Lavendelessenzen, Feigenschnaps oder Granatapfelwein dem vorgestellten Ragout beimischte. Nicht ohne Stolz berichtete der Murmeltierkoch, daß Gérard Depardieu in dem Film «Small World» mit offensichtlichem Genuß eines seiner Gerichte verzehrte. Als einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Feinschmeckerköche lebt er abwechselnd auf Ibiza und in Guatemala.
Tellkamp, die
Rare Abart der Fledermaus, vornehmlich in alten vermoderten Türmen zu Hause, aus denen durch ihr Plustern unheimliches Rascheln dringt und nächtliches Phosphoreszieren die Beobachter fasziniert. Der Fachwelt bislang unerklärlich sind Geräusche in der Paarungszeit, die an das martialische Gerassel von Panzerketten erinnern. Dieser Gruseleffekt, bei Älteren als Echo einer vergangenen Zeit verstanden, beschert dem Tier eine große Gemeinde fröstelnder Bewunderer.
Walser, der
Gehört zur Familie der «großen Kormorane». Ein hochtalentierter Taucher und Fischer auf großen Seen, dessen langer Hals ihn zu schnellen Wendemanövern im Wasser befähigt. Im Unterschied zu anderen Tauchvögeln lassen Kormorane Wasser in ihr Federkleid eindringen, weil ihre Lunge samt zugehörigen Luftsäcken dafür sorgt, daß der Körper eine geringere Dichte als Wasser hat. Um nicht an die Oberfläche zu steigen, muß der Vogel daher stets eifrig mit den Füßen paddeln. Bei der Jagd nach Beute zeigt der Walser erstaunliche Geschicklichkeit. Bei Experimenten am Bodensee tauchten die Vögel, winkte ein fetter Fisch als Belohnung, bereitwillig durch einen Tunnel mit Hindernissen. Die Eigentümlichkeit dieser Spezies besteht darin, daß – ähnlich dem Kuckuck – der Slalomkünstler gelegentlich seine Brut fremden Eltern unterschiebt, weswegen er in der wissenschaftlichen Literatur die Bezeichnung Kormoranus jakobus erhielt.
Wawerzinek, das
Trotz intensiver Forschungen, u. a. an der Yale-University, kaum exakt zu kategorisierendes Tier, von dem einzig gesichert scheint, daß es mutterlos aufwächst. Deshalb ist in einigen Publikationen von «Rabenliebe» oder «Muttersuchung» die Rede. Vergleiche bemühen sowohl den Hinweis auf den sogenannten «Jungfrauen-Gecko», dessen unbefruchtete Eier Babys bergen, als auch die offenbar belegte Sonderbarkeit einer Schmetterlingsart (Bicyclus anynana) : Je nach Jahreszeit werben die Männchen per Flügelschlag um die Weibchen, wobei sie ihre augenähnliche Musterung zeigen, während diese ihrerseits zu einer anderen Jahreszeit um die Männchen buhlen – es gibt also kein identifizierbares Elternpaar. So ändert das Wawerzinek seine Laute von einem gewissermaßen weinerlichen Fiepton unvermutet in ein Gurren, Kollern und Fauchen, wie man es von balzenden Präriehähnen kennt. Die bislang ausgiebigste Studie wurde im Fachmagazin «Science» publiziert, die dem Tier aufgrund dieser Töne einerseits die Fähigkeit zu einem
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