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Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition)

Titel: Bestiarium der deutschen Literatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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bekannt.

Schirach, das
    Besonders durch seinen kühlen Kopf, also durch ein gut durchblutetes Gehirn ausgezeichneter Cousin des mitteleuropäischen Hirsches: Rentier genannt. Zu der Phantasiewelt, die sich um dieses arktische Huftier rankt, gehört, daß der «Santa Claus» mit ihm durch den Winter fliegt. In Wahrheit aber hat das bis zu 80 Stundenkilometer schnelle Schaufelhuftier für die Wirklichkeit überaus scharfe Augen, die seltsamerweise im Winter eine blaue und im Sommer eine goldgelbe Farbe annehmen; seine zahlreichen Bewunderer nennen das den «Advokatenblick» – tatsächlich ist es eine den nachts leuchtenden Katzenaugen ähnliche Anpassung an die je nach Schnee- oder Sommerlicht sich ändernden optischen Bedingungen bei der Nahrungssuche. Gegen kritische Kälte sind diese Rentiere wie Eisbären gewappnet: Ein äußerst dichtes Fell aus hohlen Haaren bildet eine wärmedämmende Luftschicht; Schnee auf dem Rücken des gut isolierten Tieres schmilzt nicht. Es ist aber zugleich für menschliche Streicheleinheiten höchst empfänglich, so daß die Schicht der unter dem Deckhaar liegenden Unterwolle sich wohlig kräuselt – übrigens auch im Scheinwerferlicht von Kameras.

Setz, der
    Gehört zu den maskierten Säugetieren, die auch Zibetkatzen, Ginsterkatzen oder Linsangs genannt werden. Der Setz, jahrelang in Europa ausgestorben und erst seit kurzem in der Umgebung von Graz ausgewildert, wird in der einschlägigen Wissenschaft als «Larvenroller» geführt (Paguma larvata) und als Allesfresser beschrieben. Diese Wildkatze, ursprünglich in China und Südostasien beheimatet, sorgte dort für ein ökologisches Gleichgewicht, weil sie den Bestand an Insekten und kleinen Wirbeltieren minderte. Dadurch und durch die füchsische Zeichnung des schwarz-weiß gestreiften Gesichts ging das krallenbewehrte, langschwänzige Tier in die Fabelwelt ein. Viele Legenden ranken sich um den Larvenroller, seine gegen Feinde eingesetzten intensiven Duftstoffe und seine Nachtaktivität. So hält sich in Märchen und bäuerischen Sagen das Gerücht, diese Art der Ginsterkatze habe einen hypnotischen Blick. Wie man von anderen Lebewesen sagt, sie brächten die Verhältnisse zum Tanzen, so wird kolportiert, die Wildkatze sitze oft bis zu einer Stunde bewegungslos vor ihren Opfern, die in eine Art Starrkrampf verfallen, bis der Nachträuber die Mäuse, Iltisse, Eidechsen oder auch Frösche verschlingt. Ein Zaubertrick, dem stilistische Eleganz zugeschrieben wird und der mit Wärmebildkameras ausgerüstete Fotojournalisten in hymnische Begeisterung versetzt, so daß sie schwärmen: «Da möchte man am liebsten das eigene Knie küssen vor Verzückung.»

Simmel, der
    Krebsart, auch Clarkee genannt, wohl abgeleitet von dem englischen Schuhwerk Clarks, das als besonders bequem und dauerhaft gilt; das Leder, aus dem die Träume sind. Das Tier ist bereits in die Fabelwelt eingegangen, so viele Geschichten kursieren über seine enorme Fortpflanzungslust und Verbreitung; so berichtete zum Beispiel eine Zeitschrift: «Wie vor sechs Jahren in Spanien ein Grundbesitzer mit der Einbürgerung amerikanischer Clarkee-Flußkrebse ohne große Mühe eine Menge Geld verdienen wollte. – Die Clarkees aus dem Missouri erfreuen sich bei Feinschmeckern höchster Wertschätzung und erzielen entsprechend hohe Preise. Der Grundbesitzer, Herr über riesige Reisfelder im sumpfigen Mündungsgebiet des Guadalquivir südlich von Sevilla, setzte die Krebse in seinen Reispflanzungen aus und harrte des sicheren Gewinns. Nach einem Jahr waren aus 500 schon 20   000 Clarkees geworden – und aus der Hoffnung auf Profit eine Plage. Denn die Krebstiere nährten sich nicht etwa wie im Missouri von Unkraut, sondern von den kostbaren Reispflanzen. Außerdem gruben sie sich in die Wälle der Reisfelder ein und zerstörten das kunst- und mühevoll angelegte Terrassensystem. Entsetzt versuchte der Gutsherr, die Krabbeltiere wieder einzufangen. Doch trotz aufwendiger Aktionen erwischten seine Männer nicht einmal die Hälfte, die anderen vermehrten sich immer schneller. Auch gegen Bekämpfungsmittel waren die Sechsbeiner immun. Zur Zeit krabbeln etwa zehn Millionen von ihnen in Spaniens Süden und vernichten weite Teile der Reisfelder. Jetzt wird nach natürlichen Feinden der Clarkees gesucht, die den Vormarsch aufhalten könnten. Fragt sich nur – sollte ein Gegner gefunden werden –, wer diesem nach getanem Werk dann wiederum Einhalt gebietet.»

Stadler, der
    Koi.

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