Bestiarium
Hinsicht kein Treffer war, oder?«
»Das wissen wir nicht.«
»Wir wissen gar nichts.«
»Martin, in dem Leitfaden steht kein einziges Datum. Aufgeführt sind nur die Namen der Besucher in unserem Château.«
»Ist es jetzt schon unser Château?«
»Nun?«
»Na schön, mach weiter.«
Und sie machte ihn mit ihren weitschweifigen Schlussfolgerungen vertraut, wozu auch ihr Hinweis gehörte, dass vier Jahrhunderte übelster Schikane, verzweifelter Versuche, alles Mögliche zu verstecken, und Jagd auf menschliches Freiwild die wichtigen Grabdenkmäler Europas in wahre Schatzkammern verwandelt hatten. Grundlage ihrer Schlussfolgerungen waren ihre eigenen haarsträubenden Fantasiegespinste, befeuert durch die unverfänglichen drei Seiten Signaturen in ihrer Hand und sich auf den logischsten aller obskuren Orte konzentrierend, nämlich die geheime letzte Ruhestätte des bedeutendsten der Natur verpflichteten Komponisten aller Zeiten - eines Mannes, der bis kurz vor Hitlers Invasion in Polen als fast vergessen gegolten hatte.
Vivaldi war ein faszinierender Außenseiter und einst der Stolz Venedigs gewesen. Frauen beteten ihn an. Er war Konzertmeister eines Erziehungsheims für Mädchen, eines Nonnenklosters und eines halben Dutzends Opernhäuser. Könige und Königinnen überschütteten seine Werke mit überschwänglichem Lob, aber dann, seltsamerweise, war seine Karriere plötzlich zu Ende, und er reiste mit neuen Plänen nach Wien. Diese konnte er jedoch nicht mehr verwirklichen, und er starb im ärmlichen Haus eines Sattlers. Sein Leichnam wurde bei Nacht in einem anonymen Grab beigesetzt.
Nach ihrer Auffassung war das Problem nicht das, was Martin erwartet hätte: Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Hitler sich mit Vivaldis Grab beschäftigt hatte, schlussfolgerte Margaret. Er musste Polen besiegen. Nein, das Buch, hinter dem sie herjagten, wurde vor Hitler vergraben und bevor Vivaldi unter großem Aufsehen wiederentdeckt wurde. Unglaublicherweise war der größte Teil seiner Werke - mehr als siebenhundert - völlig unbekannt, bis eine große Anzahl seiner handgeschriebenen Partituren Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Kloster in der Nähe von Turin entdeckt wurde. Der Mann war seiner unmittelbaren Nachwelt so gut wie fremd. Jedoch gab es offensichtlich einige wenige Leute, die ihn kannten. Einflussreiche Persönlichkeiten, Angehörige des Ordens vom Goldenen Vlies, denen es lieber gewesen wäre, wenn Vivaldi nicht wiederentdeckt worden wäre.
Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde es ihr.
»Wir werden es dort wohl nicht finden«, räumte sie schließlich ein.
»Das hätte ich dir auch sagen können.«
»Aber wir kriegen vielleicht heraus, wohin es von dort gelangt ist!«
»Dazu brauchen wir weitere Anhaltspunkte.«
»Sieh mal, der italienische Komponist und Dirigent Alfredo Casella veranstaltete 1939 hier in Wien ein einwöchiges Vivaldi-Festival unter dem Motto Die vier Jahreszeiten. Glaubst du wirklich, dass das die richtige Zeit gewesen wäre, nach den Gebeinen des Künstlers zu suchen, wenn auch nur die geringste Chance bestand, dass sich in dem anonymen Grab das Buch befand? Derjenige, dem das Buch gehörte, hätte das niemals zugelassen.«
»Warum sollte es überhaupt da liegen? Ich meine, um Himmels willen, Margaret - warum in einem Grab, wenn es jede Menge andere Orte gibt, wo man es ...«
»Welche Orte sollten das sein?«, unterbrach sie ihn. »Es ist üblich, dass geweihte wertvolle Gegenstände in Gräber gelegt werden. Tutanchamun wurde in einer Gruft beigesetzt. Grabräuber haben immer wieder versucht, sich seiner sterblichen Hülle zu bemächtigen, aber es ist ihnen nie gelungen. Es ist nicht nur der Orden vom Goldenen Vlies. Die Pythias-Ritter, die Amerikanische Legion, die Freimaurer und die Tempelritter, um nur ein paar zu nennen, haben alle ihre geheimen Verstecke gehabt. Stell dir nur vor, was in den Gräbern auf dem Cimitero Monumentale in Mailand, auf dem Highgate Cemetery bei uns zu Hause, geschweige auf dem Père Lachaise in Paris liegt. Martin, Gräber waren schon immer Aufbewahrungsorte für die größten Schätze der Welt. Das weiß jeder.«
Martin schüttelte nur den Kopf.
Für ihn ergab das alles keinen Sinn. Für eine Historikerin wie Margaret vielleicht schon. Aber sie hatte ja auch keine besondere emotionale Bindung zu ihrem mittlerweile verstorbenen Schwiegervater. Sie hatte nie viel für ihn empfunden; für ihn jedoch war dies alles eine
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