Bestiarium
fragte er und versuchte entwaffnend zu lächeln.
Ein Riss in einem der Rohre? Weil ein halbes Dutzend Leute gleichzeitig duschten? Was immer der Grund war, Margaret musste sich unbedingt zurückziehen. Der Dampf stieg hoch wie heißes Wasser in einem Kessel.
Martin wurde jetzt aktiv. Er kroch hinter ihr her, um sie an den Füßen herauszuziehen.
»Warte, ich sehe etwas«, stöhnte sie mühsam, streckte langsam die Hand mit dem Feuerzeug aus und sah einen Sims aus brüchigem Stuck: Und dort, kaum zu erkennen, eine Zahl, die über dem Vorsprung ins Mauerwerk eingemeißelt war. Die Zahl 4 und sonst nichts. War sie von Anfang an dort gewesen? Margaret kannte sich mit Skulpturen aus. Sie konnte aus Stuck mehr herauslesen als die meisten Leute. Dies war eine alte 4, keine moderne. Die Zahl stand auf dem Kopf. Was hatte das zu bedeuten? Hatte jemand in früheren Jahren den Stuckbalken mit mangelnder Sorgfalt ersetzt? Oder war es absichtlich so geschehen? Für einen Moment fiel ihr nichts weiter dazu ein.
All das für so wenig? Sie konnte nicht begreifen, auf welche banale Art und Weise ihre Suche gescheitert war. Eine vier ...
Benommen und unter der erstickenden Enge leidend, begann sie rückwärtszurutschen und wand sich mit mühsamen Schlängelbewegungen aus dem finstersten Loch heraus, in das sie je geraten war. Gleichzeitig zog Martin mit aller Kraft an ihren Füßen.
Als sie endlich aus dem Kellerverlies auftauchte, war ihr schickes Sommerkostüm mit Schmutz und Gipsstaub bedeckt.
»Wo ist das Kind?«
»Verschwunden.«
Durch die Rohre konnten sie hören, wie Simon die Mutter ausfragte. »Was haben sie sonst noch gesagt?« Seine Stimme hatte einen drohenden Klang.
»Wir müssen zu dieser Hintertür, die die Frau erwähnt hat. Los!«, flüsterte Martin gehetzt.
Sie tasteten sich vorwärts, bis sie die Tür erreichten und in einen Innenhof gelangten. Schließlich kamen sie zu einem mit Backsteinen gepflasterten Weg, der zum hinteren Teil des Gebäudes führte.
Dort begannen sie zu rennen, was ihnen keine Schwierigkeiten bereitete, weil sie glücklicherweise das richtige Schuhwerk für eine überstürzte Flucht ausgewählt hatten, wie sie feststellen konnten. Genau genommen hatte Martin die Schuhe seit seiner Ankunft auf dem europäischen Festland nicht mehr gewechselt. An ihnen klebte noch immer getrockneter Morast von seinem Ausflug ins französische Bergland, wo der Falke auf seinem Arm gelandet war.
Sie konnten kein Taxi finden und wagten nicht, um den Häuserblock herum und zurück zur Ungargasse zu gehen. Sie schlugen die andere Richtung ein, gingen eine Viertelstunde und hatten sich verlaufen.
Margaret sprach eine ältere Frau an, die einen prall gefüllten Einkaufskorb trug.
»Entschuldigen Sie, könnten Sie uns erklären, wie wir zum Park in der Nähe des Hilton-Hotels kommen?«
Die Frau deutete stumm in eine Richtung.
Am großen Teich mit seinem hoffnungsvoll herbeipaddelnden, laut quakenden Entenvolk - Mandarinenten, Weißkopfruderenten, Brautenten und Moorenten - fanden sie im kühlen Schatten eines Wäldchens aus Stieleichen, Linden und alten Rotbuchen eine Bank. Sie setzten sich, und Margaret war ratlos und enttäuscht.
»Erzählst du es mir oder was?«, fragte Martin.
»Vier. Die Zahl vier war in die Mauer eingemeißelt. Sonst nichts.«
»Vier?«
»Ja.«
»Wir werden zum Narren gehalten.«
»Vielleicht nicht«, sagte sie und holte die Gästeliste hervor.
Als Margaret die Unterschriften überflog, leuchteten ihre Augen bei einem Namen plötzlich auf. »Vivaldi?«, sagte sie laut.
»Was ist mit ihm?«
»Beethovens Neunte.«
»Das ist die neun.«
»Dann ist es das«, entschied sie. »Die vier Jahreszeiten.«
»Wunderbar. Venedig im Sommer. Das müsste einfach sein.«
Margaret stellte die Verbindung zu ihrem Server her und suchte nach Vivaldi-Einträgen. »Er ist hier.«
»Wer ist hier?«, fragte Martin müde.
»Vivaldi ist auf dem Karlsplatz beerdigt.«
»Margaret, tu das nicht. Jeder ist in Wien begraben.«
Aber niemand, nicht einmal Martin, konnte Margaret Olivier bremsen, wenn sie einen dieser malariaähnlichen Fieberanfälle hatte. Und nun war es ein Stadtplan von Wien, den sie hervorzauberte und eingehend betrachtete, um sich dann mit einem schicksalsergebenen Seufzer zurückzulehnen. »Der Karlsplatz ist riesig. Er ist das verdammte Zentrum der gesamten Stadt.«
»Natürlich. Und ich nehme an, dass das Buch mit ihm begraben wurde, da Beethoven zumindest in dieser
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