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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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Bohnen hindurch, erstaunlich schnell, vorbei an Städten und Ortschaften. Über gefährliche Bahngleise und Schnellstraßen, vorbei an Schornsteinen, Fabrikanlagen und Einkaufszentren wie Ikea; auf Asphalt und Beton so hart wie das Eis der Gletscher, vor dem seine Vorfahren einst geflohen waren. Es hatte das von Menschen verursachte Chaos überlebt. Pleistozänjäger, die sich nichts dabei dachten, Tausende von Tieren über Klippen zu treiben, um am Ende die ein oder andere Zunge herauszuschneiden und zu verzehren.
    Simon stellte sich vor, dass sich die Naturgeschichte der Welt in diesem einen wilden Tier konzentrierte, dem es gelungen war, sich aus den Strömungen und Strudeln des Antwerpener Hafens zu befreien - Belgien zu verlassen, um sich dann mit der Orientierungsfähigkeit eines Zugvogels zu bewegen, zurück zu dem Ort, wo Tausende Generationen vor ihm zusammen mit anderen Pflanzen und Tieren Frieden gefunden hatten. Sie waren dort unter Bedingungen aufgewachsen und umhergezogen, die an jedem anderen Ort ihren Tod bedeutet hätten. Wenn diese unverwechselbare Kreatur unversehrt den Benutzern der Autobahnen, die gewöhnlich mit mehr als hundertfünfzig Stundenkilometern in ihren Mercedes- und Citroën-Limousinen dahinrasten, entgehen konnte, dann war sie jetzt durch nichts mehr aufzuhalten.
    Und Simon spürte in sich die gleiche Kraft und Entschlossenheit. Er wusste genau, was er tun musste. Pater Bladelin hatte es klar genug ausgedrückt. Das Château und das Land ringsherum waren auf der ganzen Welt einzigartig. Es musste geschützt werden. Und in seinem Kopf entstand bereits ein Plan.
    »Wenn es sich um ein und dasselbe Tier handelt, dürfte es mit durchschnittlich sechzig Stundenkilometern unterwegs sein, seit es aus seinem Gefängnis ausbrach«, schätzte Le Bon.
    »Wo ist Hubert?«
    »Mit dem Verdächtigen auf dem Weg zum IWS.«
    »Und wer ist auf dem Landgut der Oliviers?«
    »Angehörige der örtlichen Polizei. Sie sichern den Tatort. Was haben Sie vor?«
    »Ich sehe zu, dass ich schnellstens zum Château komme. Hören Sie, Paul, schützen Sie dieses Tier. Um jeden Preis. Benachrichtigen Sie jeden Polizisten. Sie sollen es in Ruhe lassen. Auf keinen Fall aufhalten oder es sonstwie behelligen. Verlassen Sie den Tatort, entfernen Sie die Absperrungen. Garantieren Sie mir das.«
    »Certainement.«
    »Was das Tier betrifft, darf sich ihm niemand nähern. Es weiß genau, wohin es rennt. Sorgen Sie dafür, dass die Polizisten den Tatort schnellstens verlassen. Es ist äußerst dringend. Sie müssen sich aus dem gesamten Gebiet zurückziehen. Holen Sie sie dort raus, Paul, und schicken Sie sie dorthin zurück, woher sie gekommen sind. Niemand, und wirklich niemand, soll sich auch nur in der Nähe des Olivier-Anwesens aufhalten. Haben Sie das verstanden?«
    »Es wird alles erledigt.« Le Bon war sich nicht sicher, ob er wirklich verstand, aber er hatte nicht die Absicht, die Entscheidungen des Stellvertretenden Direktors des IWS in Frage zu stellen.
    »Sollen wir die Oliviers weiterhin verfolgen?«
    »Nein. Brechen Sie die Überwachung ab. Es ist vorbei. Wir haben getan, was wir konnten.«
     
    In Wien hielten Martin und Margaret ein Taxi an und ließen sich zum internationalen Flughafen bringen. Martin versuchte sie auf James' Verschrobenheiten und die feste Überzeugung seines Onkels vorzubereiten, dass entgegen jeder Vernunft diese »Farm«, zu der sie jetzt unterwegs waren, den ursprünglichen Garten Eden beherbergte. Nicht irgendein Sinnbild französischer Gartenbauästhetik - kein Demonstrationsobjekt für eine ländliche Tradition, im Laufe mehrerer Jahrhunderte angelegt und entstanden mithilfe nahezu unerschöpflicher Ströme französischer Francs und Euros sowie eines ausgeprägten Gespürs für Architektur und Inneneinrichtung bis ins Kleinste, sondern das Ergebnis der Leistungsfähigkeit der Natur über den ganzen Kontinent hinweg, eine biologische Realität, die vor hundert und aberhundert Millionen Jahren begonnen hatte, ehe es überhaupt eine Region namens Europa gab.
    Margaret hatte ihre Zweifel. Gemälde vom Paradies waren meistenteils überladen und manchmal dem Leben nachempfunden. Viel häufiger jedoch lag ihnen das traurige Dasein eingekerkerter Tiere zugrunde, die man in ihrer heimischen Wildnis gefangen und von Orten wie Brasilien oder Indonesien zu Häfen wie Le Havre und Rotterdam verschifft hatte, um sie dann auszustellen und Fürsten und ihren gelangweilten Höflingen vorzuführen.

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