Bestiarium
eingefunden. Es war kurz nach neun Uhr.
Zwei Kollegen aus Le Bons Einheit warteten bereits, um die drei Männer ins Gebäude zu begleiten und an der langen Reihe alter Druckpressen und der Bibliothek und schließlich an der Galerie von achtzehn Porträts vorbeizuführen, die von Pieter Paul Rubens, einem berühmten Sohn der Stadt, stammten. Dies war der Standort der frühesten und wichtigsten Buchdruckerei von Europa, die Christoffel Plantin (1520-1589) mit den neuesten typografischen Erfindungen seiner Zeit ausgestattet hatte. In diesem imposanten Gebäude hatte Plantin dank seiner technischen Kenntnisse die Biblia Polyglotta, die erste fünfsprachige Bibel, gedruckt, die man ebenfalls unter den 25 000 Bänden der Sammlung finden kann. Das Plantin-Moretus-Museum war das erste Museum, das 2005 von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde.
Die Männer eilten durch die prachtvoll ausgestatteten Räume, vorbei an seltenen Musikinstrumenten und Globen, die alljährlich von Tausenden Touristen besichtigt wurden, zurück in den Regen. Sie hatten keinen Blick für die liebevoll gepflegten Buschreihen und Blumenrabatten des nach schlichtem flämischem Muster angelegten Gartens im Innenhof des Gebäudes übrig, war ihr Ziel doch der Schauplatz grässlicher Dekonstruktion in der Mitte des Gartens.
Der Leichnam des Gärtners, eines Mannes Anfang achtzig, lehnte steif an der mittleren Steinsäule, die zwei halbkreisförmige Reihen niedriger blühender Sträucher voneinander trennte. Überall war Blut. Es hatte sich um die Leiche herum in einer Pfütze gesammelt. Der Wind hatte ein paar Laubblätter auf den gerinnenden roten Grundstoff eines brutal beendeten Lebens geweht. Eine Harke lag zu seinen Füßen, und ein seltsam gebogener, mehr als ein Meter langer Knochen, weißlich ausgebleicht wie Treibholz, das man gelegentlich am Strand finden konnte, war durch seinen Hals gerammt worden.
»Er hatte die meiste Zeit seines Lebens hier gearbeitet«, sagte der Nachtwächter, der ihn gefunden hatte. »Und sein Vater und dessen Vater ebenfalls, wie man mir erzählte.«
»Wie lautet sein Name?«
»Jacob. Jacob Hythlodae.«
»Ein seltsamer Name. Flämisch?«
»Ja. Aber altflämisch«, sagte der Wächter. »Aber auch altenglisch, würde ich meinen.«
Simon untersuchte den Knochen, dessen scharfkantige Spitze in den Hals des Mannes gestoßen worden war. Gut ein halber Meter Knochen ragte aus dem noch nicht in Leichenstarre übergegangenen Körper des aufgespießten Opfers heraus. Was überhaupt keinen Sinn ergab, war, dass die Waffe aus Zahnsubstanz bestand. Nur ein Narwal - eine nur noch sehr selten vorkommende und vom Aussterben bedrohte Walart, die einer der Zeugen auf den Docks genannt hatte - war in der Lage, einen solchen Zahn hervorzubringen, der in der Tat dem Horn des legendären Einhorns ähnelte. Jetzt zeichnete sich auch eine mögliche, wenn auch abstruse Verbindung zu den Ereignissen am frühen Morgen ab, was die Vorfälle jedoch noch um einiges geheimnisvoller und verwirrender erscheinen ließ.
»Er wurde auch erschossen«, bemerkte Fabritius Cadiz, der Polizist, der als Erster am Tatort erschienen war. Cadiz war sowohl mit Inspektor Le Bon wie auch mit Simons Assistent, Hubert Mans, eng befreundet. »Sehen Sie dort.« Er deutete auf die Eintrittswunde in der Brust des alten Gärtners. »Ich glaube, die Kugel wurde erst nachher abgefeuert. Wir haben sie aus diesem Ziegelsteinpfosten da drüben herausgeholt.« Er wies an dem Gärtner, aus dessen Rücken die Kugel wieder ausgetreten war, vorbei über den Innenhof. In etwa sieben Meter Entfernung war auf dem Erdboden ein Häufchen Ziegelstaub zu erkennen. »Eine großkalibrige Waffe. Sie wird in Europa gewöhnlich von Wildschweinjägern benutzt. Ob Sie es glauben oder nicht, aber der Knochen hat nicht seinen Tod herbeigeführt. Es war die Kugel, die ein paar Minuten später sein Leben beendet hat, denke ich.«
»Aber warum?«, fragte Simon. »Das würde bedeuten, dass das Ganze so etwas wie eine Botschaft sein sollte, eine Vergeltungstat, ein Mord aus Rache. Der Täter, wer immer er war, wollte wohl, dass der Gärtner genau wusste, dass er sterben würde.«
»Vielleicht.«
»Was hat der Gärtner getan?«, fragte Simon weiter. »Er ist ein alter Mann. Er wusste irgendetwas, nicht wahr? Aber was? Wurde aus dem Museum etwas gestohlen?«
»Das können wir noch nicht sagen. Dafür ist es noch zu früh«, erwiderte Cadiz. »Die Kuratoren sind im
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