Bestiarium
wesentlich zu verändern, jedoch konnte es ohne molekularbiologische Untersuchungsmethoden nicht so leicht eindeutig identifiziert werden. So sah die Wirklichkeit aus.
Sie hatte sich schon mit vielen archäologischen Proben beschäftigt, von alten norwegischen Löffeln über mittelalterliche angelsächsische Kämme und Wikingersärge aus Rinderknochen bis hin zu einer Schatulle aus dem 14. Jahrhundert, die aus dem Horn eines Moschusochsen hergestellt worden war. Während der Renaissance pflegten Bewohner böhmischer Dörfer Knochen zu reinigen, indem sie sie in Ameisenhaufen legten, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes blank gefressen wurden. Aus dem, was schließlich übrig blieb, fertigten sie dann ihre Äxte und Schwerter an.
Sie hatte sich intensiv mit entsprechenden Studien beschäftigt, hatte sich Kenntnisse in der Mineralogie erworben und sich über die Bedeutung von pH-Werten in unterschiedlichen Bodenarten Klarheit verschafft, um selbst zu erkennen und Fachkollegen zu erklären, was legal und was illegal war - heißt, was von einer geschützten oder bedrohten Tierart stammte oder was als erst vor Kurzem getötet betrachtet werden konnte.
In Ashland würde eine elektronenmikroskopische Analyse der Proben eine eindeutige Übereinstimmung liefern. Die Genauigkeit war größer als eins zu vier Millionen, wie vor einigen Jahren in dem Fall des Stoßzahns eines in Alaska gewilderten Walrosses demonstriert worden war. Das Elektronenmikroskop war ständig in Betrieb, weil es immer wieder vorkam, dass aus juristischen Gründen eine eindeutige Identifikation von prähistorischen Mastodontenstoßzähnen oder Elfenbein von frisch gewilderten Tieren vorgenommen werden musste.
Mithilfe von Blutproben konnten in freier Wildbahn gefangene Papageien von denen unterschieden werden, die auf legale Art und Weise in Gefangenschaft gezüchtet worden waren. Der erste Präzedenzfall für diese Art der Analyse ereignete sich in Pennsylvanien, wo die eingetrockneten Blutspuren an einem Messer eindeutig einem außerhalb der Jagdsaison geschossenen Reh zugeordnet werden konnten und nicht einer Ziege, wie der Beschuldigte behauptet hatte.
Jean-Baptiste Simon konnte es kaum erwarten, einen Beweis für eine Übereinstimmung zu erhalten, doch für diesen Mord war die belgische Polizei zuständig, und dort würde man niemals zulassen, dass ein wichtiges Beweisstück außer Landes geschickt wurde. Falls ihm irgendetwas zustoßen sollte, würde dies ihren Ermittlungen großen Schaden zufügen. Andererseits, fand Simon, würde es die Ermittlungsarbeiten entscheidend vorantreiben, falls eine Verbindung zwischen den beiden Fällen bestehen sollte. Le Bon und Cadiz davon zu überzeugen würde Simon schwerfallen, da es bisher nicht den geringsten Beweis für einen möglichen Zusammenhang gab. Niemand auf dem Dock hatte bisher eine Aussage gemacht, die irgendwie von Gewicht war.
Diese völlige Unklarheit war Simon nicht unwillkommen, da er das Durcheinander nutzen konnte, um seine Kollegen beharrlich darauf hinzuweisen, dass ein Polizist mit der ersten Maschine zum JFK Airport und von dort weiter nach Portland fliegen müsse, mit einem Spezialbehälter in seinem Handgepäck, in dem das Horn und die Hornfragmente sicher verstaut waren.
Le Bon, Mans, Cadiz, Simon und Le Bons Assistentin, Julia Deblock, sowie der Museumsdirektor eilten die Straße hinunter, gingen an zwei weiteren im Barockstil gehaltenen Häuserreihen vorbei und gelangten zu einem elegant gestalteten Fußweg, der zum Eingang einer nach italienischer Art erbauten Villa führte, die sich als genauso kunstvoll ausgestattet erwies wie das berühmte Rubens-Haus, jedoch um mehr als ein Jahrhundert älter war. Von außen erschien sie als eher schlichtes, unauffälliges Bauwerk, dem nichts von seiner Pracht, die im Inneren herrschte, anzusehen war. Allerdings konnte Le Bons Assistentin, eine französische Kriminologie-Studentin, die sechs Sprachen fließend beherrschte und gerade siebenundzwanzig Jahre alt war, nach ein paar Telefongesprächen mit ausgewählten Experten aus ihrem wissenschaftlichen Umfeld mit einer erstaunlichen Tatsache aufwarten: Es war eines der ältesten Häuser Antwerpens und während des ersten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts erbaut worden. Und die Familie, die es hatte erbauen lassen, war niemand anderes als die Hythlodaes.
Sie umrundeten das Haus und begaben sich auf einer Zufahrt, die mit einem Schild »Durchfahrt verboten« gesperrt war, zu einem mit Efeu
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