Bestiarium
stimmt's?«
»Es kommt darauf an, wie man es ausspricht. Topos heißt ›Ort‹. Ou heißt ›nein‹, aber eu heißt ›gut‹. Morus war eine Geistesgröße und erging sich in Wortspielen, in Politik und Satire und wollte die guten und schlechten Eigenschaften des Prinzips der Staatsführung herausstellen.«
Le Bon war nicht in der Stimmung für solche Überlegungen. Er hatte nicht mit einem akademischen Exkurs seiner Assistentin gerechnet und beschäftigte sich in diesem Moment mit völlig anderen Dingen als mit griechischer Etymologie.
»Utopia«, kam Julia Deblock zum Ende ihres kleinen Vortrags und ignorierte dabei ihren verwirrten Chef, »ausgesprochen wie Eutopia, war tatsächlich ein Paradies, und die Utopier lebten im Gegensatz zur großen Mehrheit der Bewohner Europas in völligem Einklang mit der Natur.«
»Es war ein reines Fantasieprodukt«, warf Cadiz spöttisch ein. »Ich hab's gelesen.«
»Ja, aber die Familie der Hythlodaes war kein Hirngespinst«, betonte Deblock.
»Mademoiselle Deblock, wir haben, abgesehen von dieser ermüdenden Suchaktion in den Hafenbecken heute Morgen, noch ein, zwei andere Dinge zu tun.«
»Ich glaube, dass wir in diesem Haus etwas Interessantes finden könnten«, sagte die junge Frau.
»Deshalb habe ich alles, was ich sehen konnte, gefilmt«, erwiderte der Inspektor.
»Und was denken Sie?«, fragte Simon mehr als nur ein wenig neugierig. Mittlerweile hatte er nicht den geringsten Zweifel, dass zwischen dem Mord und dem entkommenen Wildtier eine Verbindung bestand, wie auch immer die aussehen mochte.
»Nun, das Buch Utopia spielt auf eine ganz bestimmte Landkarte an«, erwiderte Julia Deblock.
Revere ergriff plötzlich das Wort. »Wir haben die Landkarte. Sie ist Teil des berühmtesten Atlas, der je veröffentlicht wurde, und zwar von Abraham Orelius, eins der Kultobjekte unserer Sammlung im Museum. Es gibt keine Geheimnisse. Tausende Touristen betrachten den Atlas jedes Jahr. Tatsächlich ist sie eine der am wenigsten künstlerisch gestalteten Karten im gesamten Atlas. Dieser wurde 1570 unter dem Titel Theatrum veröffentlicht. Er war außerdem eines der bestverkauften Werke seiner Zeit. Es gibt keine Geheimnisse, meine Herren. Schließlich gab es Hunderte von Ausgaben, die allesamt Bestseller waren.«
Ein unbehagliches Schweigen senkte sich auf die Gruppe. Als Polizist stellte sich für Simon die drängende Frage, weshalb der Museumsdirektor so nachdrücklich darauf bestand, dass an dieser Landkarte nichts Geheimnisvolles war.
»Wo lag denn nun Utopia?«, fragte Simon schließlich.
»Das weiß niemand«, antwortete Revere. »Ist das denn so wichtig? Es war eine politische Satire. Heinrich VIII. ließ in England jedes Jahr zwanzigtausend Diebe hinrichten. Kann man sich so etwas vorstellen? Grausame Zeiten ohne Hoffnung auf Gnade. Und wie Sie sicherlich wissen, hat Thomas Morus sich beim König nicht gerade beliebt gemacht. Indem er sich weigerte, Heinrich VIII. als obersten Herrn von England anzuerkennen, verwirkte er sein Leben. All seine Bemühungen auf persönlicher Ebene waren vergeblich, wie sich am Ende herausstellte.«
»Aber einige Gelehrte haben auf Norwegen verwiesen, zumindest das nur dünn besiedelte Norwegen zur Zeit von Thomas Morus«, erklärte Julia. »Andere warteten mit Beweisen dafür auf.«
»Und wieder andere beharren darauf, dass es eine Stadt namens Amanote - was so viel wie ›Traumstadt‹ heißt - in der Neuen Welt war«, sagte Revere.
»Ja, das ist möglich«, meinte Deblock. »Raphael Hythlodae war zusammen mit Amerigo Vespucci in Amerika, jedenfalls wird das von Pieter Gillis berichtet, einer anderen Figur in dem Buch. Er war außerdem ein weithin bekannter Einwohner Antwerpens.«
Simon wusste, dass alles nicht so war, wie es erschien. Edouard Revere war viel zu ruhig. Er erschien seltsam unberührt von der Ermordung eines Mannes, in dem sich ganz offensichtlich genauso viel Geschichte bündelte wie in seinem Museum. Ganz zu schweigen davon, dass er ein Angestellter und wahrscheinlich ein Freund gewesen war.
Revere, der Simons Unbehagen spürte, nannte einen Aspekt, der sie alle auf einen ganz anderen Gedanken brachte, was er bereits in dem Moment bedauerte, als er die Worte aussprach. »Viel interessanter ist, was die Landkarte und die auf ihr angegebene Lage Utopias verschweigen oder weglassen.«
»Und das wäre?«, fragte Simon schließlich.
»Nirgendwo in dem Buch oder auf der Landkarte befindet sich zum Beispiel ein
Weitere Kostenlose Bücher