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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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informierte, dass er einen Durchsuchungsbeschluss vorweisen müsse, um das Anwesen betreten zu dürfen. Und dass er kein Recht habe, die Haushälterin ohne Anwesenheit eines Rechtsanwalts zu befragen, und so weiter.
    Wer hat den Anwalt benachrichtigt und wann, fragte sich Le Bon.
    »Vielen Dank, Madame. Für Ihren schmerzlichen Verlust drücke ich Ihnen mein Beileid aus. Ich denke, wir werden noch einmal zurückkommen. Wir alle wollen Klarheit darüber, wer Ihrem Arbeitgeber und, wie ich annehme, auch Freund etwas so Grässliches angetan hat.« Sie bedankte sich bei ihm.
    Le Bon beobachtete Edouard Revere aufmerksam, während er sich ebenfalls von der Haushälterin verabschiedete. Reveres Einsilbigkeit war ein einziges Rätsel, dachte Le Bon.
    Draußen vor dem Haus gab Le Bon eine telefonische Anweisung, den Gärtner zu überprüfen. Seine Fahrerlaubnis war schon vor Jahrzehnten erloschen. Geboren war er 1923. Die Eigentumsrechte an dem Anwesen lagen bei einem Trust, der aus Hythlodaes überall in Europa bestand und der offensichtlich sämtliche Rechtsgeschäfte in die Hände des Anwalts gelegt hatte, mit dem Le Bon soeben das Vergnügen gehabt hatte. Dies war nicht das Haus irgendeines Verwandten, sondern es war das Eigentum des Gärtners. Eine Villa, die einem Gärtner gehörte, der seinen enormen Wohlstand vor der Außenwelt verborgen hatte. Warum gibt ein Mann mit solchen finanziellen Mitteln sich damit zufrieden, sein ganzes Leben mit handwerklicher Arbeit zu verbringen, fragte Le Bon sich.
    Nicht einmal der Museumsdirektor, der Jacob Hythlodae seit so vielen Jahren beschäftigt hatte, wusste - oder war bereit zuzugeben, dass er wusste -, dass Hythlodae steinreich war.
    »Da ist noch etwas anderes«, sagte Julia Deblock. »Der Name wie auch das Haus haben ungefähr die gleiche Entstehungszeit wie ihr eponymes Pendant.«
    »Was soll das heißen?«, fragte Le Bon ungeduldig. Seine junge Assistentin hatte eine besondere Vorliebe für unverständliche Redewendungen und Begriffe. Er vermutete, dass sie das für besonders clever hielt, sozusagen für eine Art Bestätigung einer ausgeprägten kriminologischen Begabung. Simon und Cadiz ließen ihre Mobiltelefone sinken, über die sie sämtliche bürokratischen Einzelheiten einer ermüdenden Nacht und eines Morgens geklärt hatten, der so gar nicht zum ansonsten eher ruhigen Antwerpen passen wollte.
    Sie fuhr fort: »Raphael Hythlodae oder -daeus, klingelt da etwas?«
    Die drei Männer überlegten stirnrunzelnd. Nichts klingelte, obgleich sich bei Simon eine vage Erinnerung regte ...
    »Moment mal. Eine literarische Figur?«
    »Eigentlich eine reale Person«, sagte Julia Deblock. »Aus Thomas Morus' Utopia, erschienen im Jahr 1516. Der Name des Mannes lautete tatsächlich Hythlodae. Es gab auch andere Schreibweisen - Hythloday, Hythlodaeus.«
    Le Bon sah den Museumsdirektor irritiert an. »Das haben Sie doch bestimmt gewusst, oder?«
    »Es ist kein Geheimnis«, erwiderte Edouard Revere. »Wir alle mussten uns als Schüler damit im Griechisch- und Lateinunterricht herumschlagen.« Le Bon und Simon hatten beide irgendwie gespürt, dass er etwas verschwieg. Das Verhalten des Museumsdirektors angesichts dieser Affäre erschien immer merkwürdiger.
    Julia holte nun etwas weiter aus. »Er wurde von Morus als wettergegerbter Mann beschrieben, der die Welt bereist hatte und tatsächlich in Utopia gewesen war und dort an die fünf Jahre gelebt hatte. Der erste Band ist im Grunde nichts anderes als eine überarbeitete Transkription von Hythlodaes eigenen Erlebnissen, wie er sie Morus geschildert hat. Und jetzt raten Sie mal, wo die beiden ihr Gespräch geführt haben, das zur Grundlage eines der berühmtesten Bücher der Renaissance wurde? Genau hier, denke ich, im Haus der Hythlodaes, obgleich Morus berichtete, es habe in seinem eigenen Garten stattgefunden. Der Punkt ist, dass sie sich in Antwerpen begegnet sind.«
    »Und wie bringt uns das weiter?«, knurrte Le Bon ungehalten und nicht halb so interessiert wie Simon.
    »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Julia Deblock, »außer dass Hythlodae so etwas wie ›Possenreißer‹« heißt; in dem Wort steckt das griechische hythlos ›Unsinn‹.«
    »Unsinn«, wiederholte Le Bon. »Nun, das ist wirklich eine große Hilfe.«
    »Jetzt erinnere ich mich!«, meldete Simon sich aufgeregt zu Wort. »Die griechische Bedeutung war ironisch gemeint, genauso wie Utopia selbst, was im Griechischen so viel bedeutet wie ›Nichtort‹,

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