Bestiarium
Hinweis auf Brasilien, in jener Zeit eigentlich eine logische Wahl, da es sich um einen riesigen Kontinent voller unbekannter Tierarten und so genannter Edler Wilder handelte. Oder auf England selbst, eine geografische List, die dem Autor an der politischen Heimatfront vielleicht ein paar Gummipunkte eingebracht hätte.«
Simon wusste nicht, was er von Reveres Reaktionen halten sollte, die ihm seltsam aalglatt vorkamen.
»Haben die Buchstaben CSFB irgendeine Bedeutung für einen von Ihnen?«, fragte Simon und schaute erst Revere und dann Mademoiselle Deblock an.
KAPITEL 10
A ls Martin eintraf, um sich mit Margaret zum Mittagessen zu treffen, hatte er bereits seine Sekretärin Alicia veranlasst, sämtliche Termine für die nächste Woche abzusagen. Er nannte dafür einen in jeder Hinsicht plausiblen Grund: Er wolle unbedingt als Erster ein Angebot auf einen Gutsbesitz abgeben, der demnächst, bedingt durch einen Todesfall in der betreffenden Familie, auf den Markt komme. Er gab die Anweisung mit dem Ausdruck jenes kalten, geschäftsmäßigen Opportunismus weiter, der seiner Firma zu ihrem geschäftlichen Erfolg verholfen hatte.
Margaret beendete soeben ein Gespräch mit dem leitenden Kurator der Ausstellung. Mehr als hunderttausend Besucher waren gekommen, um sich die Bilderhandschriften und andere Kunstobjekte anzusehen, und es sollte nur noch eine Woche dauern, ehe die Ausstellung geschlossen wurde. Die Besucherzahlen waren beispiellos für eine kleine Institution, die irgendwo zwischen »Galerie« und »Museum« rangierte. Diese neu erworbene Popularität war im Wesentlichen auf Margarets Wirken zurückzuführen.
Margaret war Flämin und hatte an der Universität von Oxford in Kunstgeschichte mit Schwerpunkt auf Burgund promoviert. In ihrer Dissertation hatte sie sich mit dem beschäftigt, was sie in dem begleitenden Katalog der Ausstellung »eine Geschichte fantastischer Wildnisse« nannte. Wenngleich noch nicht ganz fünfzig Jahre alt und eher wie eine alterslose fünfunddreißigjährige, heißblütige Filmschauspielerin aussehend, war sie bereits mit früheren Koryphäen wie Lord Kenneth Clark, Siegfried Gideon und Erwin Panofsky verglichen worden, alles prägende und richtungweisende Persönlichkeiten in der Kunstwelt. Als Sozialhistorikerin der Renaissance kannte sie sich in der Musikgeschichte, der vergleichenden Literaturwissenschaft und den Details der Ikonografie von einem Dutzend Ländern aus. Außerdem war sie Expertin in mehreren alten Sprachen - von Niederländisch, Französisch und Italienisch bis hin zu Kirchenrussisch und -griechisch. Ihre Kenntnisse in Deutsch, Portugiesisch und Latein waren respektabel. Margaret Olivier hätte im 14., 15. oder 16. Jahrhundert auf jeder europäischen Dinnerparty glanzvoll bestehen können. Trotzdem hatte sie Angebote der renommiertesten Universitäten abgeschlagen, um weiterhin für Museen, Auktionshäuser oder - vorwiegend - für die Firma ihres Mannes, die treffenderweise den Namen Olivier's trug, als unabhängige Beraterin tätig zu sein
Ihre Fähigkeit, stets sofort auf den Punkt zu kommen, schlug häufig jede Konkurrenz aus dem Feld. Sie konnte ihrem Mann innerhalb von vierundzwanzig Stunden überzeugende Wertschätzungsgutachten für potenzielle Kunden liefern. Sie untersuchte dazu jede digitale Darstellung eines Anwesens und bewertete jedes Objekt, seine historische Bedeutung, die baulichen Besonderheiten oder die darin enthaltenen Bilder an den Wänden mit einer Exaktheit und einem Gespür für aktuelle Marktströmungen, die man nur beängstigend nennen konnte. Sie hatte elf Bücher geschrieben - sie tippte mehr als hundert Worte in der Minute - und fast zweihundert akademische Aufsätze mit Titeln wie Campin, Bouts und die Brüder von Limbourg: Der Einfluss der bedeutenden Bibliophilen auf die Landschaftsminiaturen der flämischen und niederländischen Renaissance veröffentlicht. Kurz gesagt: Margaret Olivier war ein Freak. Ihr langes braunes Haar, die wachen dunklen Augen und die üppigen Kurven der Schlummernden Venus von Giorgione verliehen ihr die Schönheit eines tollkühnen und sexuellen Außenseiters im Körper eines schamlosen, aber stets professionell auftretenden Wunderkindes.
Martins juristisches Diplom sowie sein Training bei Sotheby's waren eine gute Vorbereitung auf die Karriere gewesen, die vom ständigen Nachschub an alten verstaubten Familiensitzen (»liebevoll vernachlässigt« wurden sie in den Inseraten in Magazinen wie
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