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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tobias
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einer Landstraße östlich von Paris herumhüpfen gesehen zu haben, wo die beiden an einer ausgedehnten Weinprobe teilgenommen hatten. Das Seltsame an der Sache war nur, dass der Mann an einer amerikanischen Universität Vorlesungen in Zoologie abhielt und erklärte, er würde einen Riesenalk auf Anhieb erkennen. In den wissenschaftlichen Werken über Ornithologie wimmelte es von detaillierten Darstellungen aus dem 17. Jahrhundert, als der Vogel noch auf einigen abgelegenen Inselgruppen im Nordatlantik existierte.
    »Lächerlich«, erwiderte Jean-Baptiste Simon schließlich, knipste seine Nachttischlampe an, griff nach Bleistift und Notizblock und schwang sich aus dem Bett. »Es war entweder ein Nashorn, oder es hatte zwei Hörner, und auch dann kann es immer noch ein Nashorn oder der Vertreter einer von fünfhundert anderen Tierarten sein.«
    »Schon möglich«, sagte Hubert Mans, aber ihm waren seine Zweifel deutlich anzuhören.

 
    KAPITEL 3
     
    J ean-Baptiste Simon war nicht in der Stimmung für Hubert Mans' seltsame Andeutung, die wahrscheinlich der Tatsache entsprang, dass er nicht ganz nüchtern war. Ja, die beiden langjährigen Partner hatten sich am Vorabend mit einigen anderen Angehörigen des Interpol Wildlife Secretariat zu einer feuchtfröhlichen Feier getroffen. Gegen Mitternacht war Simon dann mit einem Taxi in sein spärlich möbliertes Junggesellenapartment in der Altstadt zurückgekehrt, wo er es gerade noch geschafft hatte, seine Laufschuhe und sein Rayon-T-Shirt auszuziehen, ehe er ins Bett gefallen und eingeschlafen war. Sein letzter Gedanke hatte einem dringend nötigen Urlaubstrip mit seiner verwitweten Tochter Sylvie und ihrem neugeborenen Baby zu einem abgelegenen Streifen warmen Sandstrands in der Nähe jenes verschlafenen Dorfs irgendwo an der Westküste Zyperns gegolten, wo das seit hundert Jahren erste neue europäische Säugetier entdeckt worden war, die so genannte Zypern-Maus, die schon vor über neuntausend Jahren auf der Insel gelebt hatte.
    Simons Eigentumswohnung fehlte jeglicher Charme. Ihre Einrichtung wurde ausschließlich von seiner beruflichen Tätigkeit bestimmt. Seine Exfrau - die eine Abneigung gegen Mäuse und andere Ausdrucksformen von Simons obsessiv-zwanghaften Charaktereigenschaften hegte - hatte sämtliche Antiquitäten mitgenommen. Immerhin hatte Simon all das vor ihrem Zugriff retten können, was er als essentiell wichtig betrachtete: die Erinnerungsstücke seiner Eltern und Großeltern, Seemuscheln, Tierbücher sowie ein paar avantgardistische Möbelstücke aus Plastik, Aluminium und Pappe aus der frühen Schaffensphase Frank Gehrys. Und einen Schrank voller ungewöhnlicher Schusswaffen.
    Er hatte angesichts der Wende, die seine berufliche Laufbahn nahm, nicht die Zeit gehabt, mehr zu tun als das.
    Zwei Jahre zuvor war Simon, zu diesem Zeitpunkt achtundvierzig Jahre alt, von seiner Polizeidienststelle in Dijon auf den Posten des Stellvertretenden Direktors des in der Schweiz ansässigen IW Secretariat abkommandiert worden. Als solcher war er verantwortlich für eine ständige weitreichende Kontrolle der Artenidentifikation und Verfolgung von Verstößen gegen die Bestimmungen des Washingtoner Abkommens über den Handel mit gefährdeten Tierarten (CITES), wozu auch die Koordination verdeckter Operationen und zeitlich genau abgestimmter Razzien und Durchsuchungen vorwiegend in völlig harmlos erscheinenden unauffälligen Wohnungen, in Ladedocks und Häfen, Bahnhöfen und Flughäfen in ganz Europa gehörte.
    Seine Beförderung war genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt, denn Simon hatte in Dijon allmählich die Unruhe gepackt, da er nur noch gelegentlich hinaus aufs Land kam, was gewöhnlich nur geschah, um in aller Ruhe mit Kleinbauern zu verhandeln, die gegen die neuen Tierschutzgesetze der Europäischen Union verstießen, speziell was die Haltung von Schweinen, Gänsen und Hühnern betraf. In Westfalen mussten Bauern jedem ihrer Schweine täglich mindestens zwanzig Sekunden lang in die Augen schauen, eine Geste, die wenigstens einen Anflug von Menschlichkeit vermitteln sollte. Die Schweinezüchter stiegen sofort auf die Barrikaden. Sie argumentierten, zwanzig Sekunden pro Schwein, und das bei Millionen von Tieren, erbringe für sie am Ende eher einen Verlust als einen Gewinn.
    Bauern, vor allem die ärmeren auf Höfen kleiner als fünf Hektar, waren nur schwer zu überzeugen, aus Gründen, die nach Simons Dafürhalten ausschließlich im persönlichen Bereich

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