Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
ich schon von anderen Kollegen kritisch beäugt, weil ich mich immer wieder freiwillig in das Polizeigefangenenhaus meldete, um dort meinen Dienst zu versehen. Ich verbrachte Stunden um Stunden an Nachmittagen und Abenden in den Zellen der Unterstandslosen, um von ihnen Lebensgeschichten, Biografien, Erkenntnisse und Erfahrungswerte zu lernen.
Meine Tätigkeit als Streifenpolizist gab mir die großartige Möglichkeit, mit anderen Menschen zu sprechen, über Erfahrungen zu diskutieren und immer weiter und tiefer der Frage nachzugehen: „Warum treffen wir welche Entscheidungen?“ Ein ausgestelltes Strafmandat war für mich nur dann ein gutes Strafmandat, wenn mich der Bestrafte nahezu darum bat, denn ich war nicht dazu geeignet, zu verurteilen, bestenfalls zu beurteilen. Ich hielt mich immer an das Zitat von Stefan Zweig: „Es ist schöner, einen Menschen zu verstehen, als über ihn zu richten.“ All diese Gespräche, gedanklichen Überlegungen und Versuche, eine Ordnung in das psychologische Chaos der Verhaltensbeurteilung zu bringen, waren zwar teilweise von Erfolgen gekrönt, im Prinzip jedoch unstrukturiert, willkürlich und größtenteils sehr frustrierend. Ich war zwar bereits in der Lage, aus der Art und Weise, wie sich jemand am Bahnsteig von seinem Partner verabschiedete, Schlussfolgerungen zu ziehen, ob ein „weiterer“ Partner außerhalb des Bahnhofsgebäudes auf den Zurückkehrenden wartete. Teilweise gelang es mir, Personen, die im Polizeirevier vorsprachen, damit zu verblüffen, dass ich ihnen einen Kugelschreiber reichte, bevor sie in ihren Taschen zu wühlen begannen, indem ich aufgrund der Haartracht und der Taschengröße die Schlussfolgerung zog, dass sie alles andere als einen Kugelschreiber bei sich trugen, und diesen Umstand mit den Worten kommentierte: „Suchen Sie nicht, Sie haben keinen.“ Aber alles in allem konnte ich aus diesen Beobachtungen einen einzigen Schluss ziehen: Menschliches Verhalten ist zu komplex, als dass man es in zehn, 20 oder 50 Kategorien darstellen könnte. Eine Entscheidung einer Person zu einem bestimmten Zeitpunkt sagt nichts oder kaum etwas über ihre Persönlichkeit aus.
Aber ich sammelte Lebenserfahrung. Ich sog die Lebensgeschichten und Biografien, tragischen Ereignisse und grundsätzlichen Entscheidungen von anderen Menschen, die glücklichen und weniger glücklichen, alltäglichen und tragischen Situationen in mich auf wie ein rauchender Purist, der in der Lage ist, den Qualm seiner Zigarre aus dem Mund austreten zu lassen, um ihn mit der Nase wieder einzusaugen. Ich verglich und stellte gegenüber. Ich erstellte fiktive Gebäude von Grundsatzentscheidungen und verwarf sie aufgrund eines tatsächlichen Ereignisses – und trotzdem blieb alles rein praktische Beobachtung. Auch wenn der Schreiner als Material sein Holz, den Leim und die Schrauben verwendet, braucht er ein Werkzeug, um aus rohen Brettern eine Wiege oder einen Sarg zu zimmern. So hatte ich zwar im Laufe der Zeit einiges an Material zusammengetragen, aber mir fehlte die entsprechende Methode, das psychologische Werkzeug, um aus diesem losen Konglomerat von Einzelinformationen verifizierte Schlussfolgerungen ziehen zu können. Das theoretische Grundkonzept musste her.
Ich lief auf die Universität und inskribierte jenes Fach, dem man im Allgemeinen nachsagt, sich mit menschlichem Verhalten einschließlich der Anwendung ihrer Erkenntnisse zu beschäftigen: Psychologie. So begann ich mich etwa vier Jahre, nachdem ich dem Polizisten mit seinen Dutzenden Kugelschreibern begegnet war, in die Theorie der Statistik, die lerntheoretischen Ansätze, die angewandte Psychologie und die physiologischen Grundsätze für Psychologen einzugraben. Es war etwas mühsamer, als ich gedacht hatte, denn in der Nacht ging ich weiter meinem Streifendienst als Polizist nach und konnte daher tagsüber während der Vorlesungszeit nicht immer genau jene Informationen aufnehmen und verarbeiten, die gerade wichtig waren.
In der vorlesungsfreien Zeit eröffnete ich ein neues Beobachtungsfeld. Ich wollte Menschen zu einem Zeitpunkt kennenlernen und beobachten, wenn sie sich in einer Art freiwilliger Abhängigkeit befanden. Ich wollte nachvollziehen, warum manche Leute dem Drang der eigentlichen Individualität, den freien Entscheidungen, mehr Nachdruck verleihen und andere sich eher der Gruppe anschließen. Ich lernte dazu auf der Universität unterschiedliche Erklärungsmodelle, aber die Praxis erschien mir immer noch
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