Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
Organisationspsychologie: ein naheliegendes und greifbareres Gebiet. Ich lernte psychologische Test- und Messverfahren, lernte, die Intelligenz, die Leistungsfähigkeit sowie den Berufserfolg eines Menschen mit statistischen Kennwerten und Gütekriterien zu messen. Bewährt, sauber, nachvollziehbar und spannend!
Trotzdem vergaß ich nie ganz meine umfangreichen Feldforschungsexperimente, meine Beobachtungen, meinen Versuch, die Psychologie für die Kriminalistik nutzbar zu machen. Ich hatte keinen einzigen Tag meiner beruflichen Karriere als Kriminalist gearbeitet. Ich war Streifenpolizist. Ich war mit Schwerkriminalität wie Mord, Raub, Sexualverbrechen bis zu diesem Zeitpunkt nie in Kontakt geraten, außer dass ich einen Tatort, an dem eine Leiche aufgefunden worden war, abgesichert oder bewacht hatte, bis die Spezialisten von der Kriminalpolizei eintrafen. Aber ich sprach mit diesen Spezialisten und ich wusste zumindest einen Teil ihres theoretischen Rüstzeuges aufgrund der Kriminalistikausbildung in der Polizeischule. Ich wusste auch, dass die meisten Kriminalistiklehrbücher von Psychiatern geschrieben wurden, und so verstand ich nicht, warum gute Kriminalisten dem psychologischen Ansatz so kritisch gegenüberstanden.
Es war doch so naheliegend, dass Menschen, die ein Verbrechen begehen, ein bestimmtes Verhalten zeigen müssen. Würde es uns gelingen, dieses Verhalten festzustellen, könnten wir es unter bestimmten Voraussetzungen einer bestimmten Person zuordnen. Der Gedanke faszinierte mich, blieb aber trotzdem undurchführbar. Die Fahrgäste am Bahnhof, die Drogensüchtigen, die Unterstandslosen und Prostituierten, die Angestellten, Beamten, Ärzte, Politiker und Polizeikollegen – all die Gespräche, die ich mit diesen Menschen geführt hatte, verloren plötzlich an Wert, weil ich ja nicht überprüfen konnte, ob das stimmte, was sie mir alles sagten. Es gab Parallelen, Ähnlichkeiten, Gemeinsamkeiten. Dann aber hoben sich wieder Unterschiede deutlicher hervor und ich war bereits so weit, dass ich den Versuch aufgab, psychologische Erkenntnisse für die Kriminalpolizei nutzbar zu machen. Nun hatte ich ein fertiges Psychologiestudium, fuhr in einem Funkstreifenauto von Einsatz zu Einsatz, bewachte die Schulwege in der Früh und sinnierte über meine berufliche Zukunft nach, bis zu dem Tag, als im Herbst 1991 etwas Außergewöhnliches passierte.
10.
Es gab über Funk eine Alarmfahndung, weil ein Mann in Innsbruck angeblich ein Postamt überfallen hatte. Dabei, so weit die Information, die wir über Funk erhielten, bedrohte er mit einer Waffe die Postbedienstete und forderte von ihr Geld. Diese Frau entgegnete ihm, dass sie kein Geld habe. Er möge doch in die nächste Bank gehen. Tatsächlich verließ der Räuber das Postamt, verbarrikadierte sich in einem kleinen Haus und drohte nunmehr, sich umzubringen, wenn man ihn festnehmen würde. Um seiner Drohung Nachdruck zu verleihen, hatte er sich eine großkalibrige Waffe in den Mund geschoben und hielt den Finger am Abzug. Natürlich rasten mein bester Funkstreifenpartner Klaus Heis und ich zum angegebenen Ort, wobei sich mir ein außergewöhnliches Bild bot. Um das kleine Haus hatte man zahlreiche Polizeikräfte zusammengezogen. Die Eingangstüre, das Stiegenhaus und die kleine Wohnung, in der sich der Täter aufhielt, waren von Polizisten unterschiedlicher Einheiten umstellt, ja geradezu besetzt, und es herrschte rege Betriebsamkeit. Vor dem Schlafzimmer standen mehrere Kollegen mit gezogener Dienstwaffe und forderten den vermeintlichen Selbstmörder auf, sich zu ergeben und vorher die Waffe aus dem Mund zu nehmen.
Warum überfällt jemand ein Postamt, lässt sich von seinem Vorhaben abbringen mit dem Hinweis, er solle sich das Geld woanders holen, und will sich anschließend umbringen? Wie wahrscheinlich ist es, dass er seinem Leben tatsächlich ein Ende bereitet? Welche Logik beinhaltet die Handlung, eine Waffe auf einen Mann zu richten, der selbst eine Waffe im Mund hat und damit droht, sich zu suizidieren?
Ich hatte zwar ein Psychologiestudium beendet, hatte aber keine Ausbildung in der Verhandlungsführung. Ich wusste nicht, was in diesem Menschen jetzt vorging. Aber ich ließ die Tausenden kleinen Dateien vor meinem geistigen Auge durchlaufen, die ich im Zuge meiner Beobachtungen und Gespräche festgehalten hatte, und ich erinnerte mich an ein Gespräch mit einem Unterstandslosen, der in einer bitterkalten Dezembernacht eine Scheibe zu einem
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