Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
empfinden, wenn sich andere Menschen vor Schmerzen winden? Ein Gespräch mit Lutz Reinstrom ist notwendig, um, zumindest ansatzweise, zu verstehen, dass wir in der Bearbeitung und auch in der Beurteilung von außergewöhnlich strafbaren Handlungen immer wieder Irrtümern unterliegen, weil wir glauben, erkennen zu können, wie das „Böse“ auszusehen hat. Lutz Reinstrom wurde wegen Mordes in zwei Fällen, wegen versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit Freiheitsberaubung sowie wegen erpresserischen Menschenraubes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Es wurde nach deutschem Strafrecht die Schwere der Schuld festgestellt und die Sicherheitsverwahrung angeordnet: ein irdisches Urteil. Ist Lutz Reinstrom deshalb böse? Aus Sicht der Kriminalpsychologie ist er es nicht. Denn diese Beurteilung hilft weder dabei, sein Verhalten zu verstehen, noch mit ihm ein vernünftiges Gespräch zu führen bzw. von ihm zu lernen, wie wir eine dramatische Entwicklung, die er im Laufe seines Lebens eingeschlagen hat, irgendwann verhindern können. Der Mann ist für den Rest seines Lebens eingesperrt, war und ist aber ein brillanter Kürschner. In meiner beruflichen Tätigkeit verurteile ich nicht, ich beurteile und ich nehme mir die Freiheit heraus, mit jedem Menschen zu sprechen, mit dem ich sprechen möchte. Ich zwinge mich auch dazu, mit jenen zu sprechen, mit denen ich nicht sprechen möchte, weil ich nur dann an Informationen herankomme, die für meine Tätigkeit wichtig sind.
2.
Menschen, die komplexe Verbrechen begehen, haben keine gelben Augen. Sie kratzen nicht mit ihren Fingernägeln am Boden dahin oder haben ein Kainsmal auf der Stirne, auf dem geschrieben steht: Ich habe drei Menschen umgebracht. Das Außergewöhnliche kann manchmal sehr gewöhnlich ausschauen. Wenn Sie vor etwas mehr als 17 Jahren in München auf dem Oktoberfest gewesen wären, hätte es Ihnen theoretisch passieren können, dass Sie neben einem höflichen, auffallend zuvorkommenden 55-jährigen Mann gesessen wären, der Ihnen erzählt hätte, wie fleißig er in den letzten 30 Jahren gearbeitet hätte. Hans* war ein Maler, allerdings kein Kunstmaler. Er hat keine Bilder gemalt, sondern Häuser, Garagentore und Lehrsäle mit Farbe versehen. Fleißig, beständig, nahezu sein ganzes Leben lang hat er mit einer katzenartigen Geschwindigkeit seinen Beruf ausgeübt und wenn er es Ihnen erzählt hätte, wären Sie fasziniert gewesen, wo er überall gearbeitet hat. Dieser Mann hat aber noch etwas getan. Soweit er zugegeben hat, hat er in einem mehrjährigen Zeitraum sieben Menschen umgebracht und drei davon auf eine Art und Weise, dass es zunächst niemand erkannt hat.
Keine zwei Sätze habe ich in meiner beruflichen Laufbahn öfter gehört als die folgenden: Wenn irgendwo ein komplexes Verbrechen aufgeklärt wird, die Polizei präsentiert einen Tatverdächtigen, ist die erste Reaktion von Leuten, die diese Person näher gekannt haben, in der Regel immer die gleiche. Ein allgemeines Entsetzen macht sich breit und dann kommen von Emotionen getragene Feststellungen wie: „Doch nicht derjenige, das war der liebe nette Neffe, welcher der alten ergrauten Tante die Kohlen hinaufgetragen hat. Es war der nette Nachbar, der den Rasen gemäht, das Wochenende mit seinen Kindern am nahen Fluss beim Grillen verbracht hat.“ Doch je nach Komplexität des Verbrechens dauert es bloß wenige Stunden bis einige Tage und plötzlich finden sich genügend Leute, welche die Meinung vertreten: „Das haben wir ja immer schon gesagt. Dieser Mensch war immer schon etwas anders.“
Was sagt aber nun dieser allgemeine Wandel? Nichts anderes, als dass wir unfähig sind, nach außen hin zu erkennen, was jemand in der Lage ist zu tun oder auch nicht. Der zweite Irrtum, dem ich in meiner Karriere immer wieder begegnet bin, ist die Annahme, dass das Böse sehr weit weg ist. Ein sudanesisches Sprichwort sagt: „Suche den Feind im Schatten deiner Hütte!“ Und so grotesk es klingt, aber die meisten Menschen, die geschlagen, betrogen, vergewaltigt, belogen und umgebracht werden, könnten uns den Namen desjenigen sagen, der es getan hat. Die Annahme, zu wissen, was man jemandem zutrauen kann und was nicht, ist der größte Irrtum und bestenfalls die Basis für Vorurteile. Dieser Irrtum ist der Nährboden, in dem die Tarnung der Falschheit zu wachsen beginnt. Und wir düngen selbst den Boden, indem wir glauben, andere Menschen beurteilen zu können. Falsch!
Verhalten und
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