Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
unterschiedlich.
Diese Tatsache der individuellen Verhaltensbereiche übte auf mich eine derartige Faszination aus, dass ich fast jede freie Minute damit verbrachte, Menschen in anderen, teilweise ähnlichen Berufsgruppen zu beobachten und mit ihnen zu sprechen. Ich ging sogar dazu über, freiwillig in der Polizeikaserne Blumen zu gießen, um dafür einmal im Monat einen halben Tag dienstfrei zu erhalten, mir irgendeine Zugfahrkarte zu kaufen und Schaffner, welche auch eine Uniform trugen, bei ihrer Tätigkeit zu beobachten.
Nach Abschluss der Polizeischule gab es für mich keine andere Wahl, als an jenem Ort meinen Dienst zu beginnen, dem nahezu alle anderen Kollegen aus dem Weg zu gehen versuchten – dem Streifendienst am Hauptbahnhof. Diese Örtlichkeit war für mich eine Ansammlung von unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Situationen. Sie kamen und gingen. Sie lachten und weinten. Sie trafen sich und verabschiedeten sich. Sie waren nüchtern und betrunken. Wie jeder Hauptbahnhof einer größeren Stadt war auch jener Schmelztiegel von Persönlichkeiten, die im Laufe ihres Daseins an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und hier noch einmal ihr Glück versuchten: Unterstandslose, Alkoholiker, Prostituierte, Kleinkriminelle.
8.
So begann ich also mit meinen systematischen Beobachtungen, wie sich unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen verhielten, wie sie miteinander sprachen, sich verabschiedeten. Ich begann mit ganz einfachen Beobachtungen. Ich begann, Art und Sitz der Kleidung, Marke und Farbe von Schmuckgegenständen in Verbindung zu setzen und mit welchem Auto die Personen fuhren. Dann ging ich dazu über, systematisch einzelne Bekleidungsgegenstände wie Schuhe oder Handtaschen aus meinen Beobachtungen auszuklammern und aufgrund anderer Kernmerkmale wie Gehgeschwindigkeit und Haartracht auf andere Merkmale zu schließen. Ich beobachtete Menschen, in welcher speziellen Form sie sich von Bekannten und Verwandten verabschiedeten, und erkannte alsbald, dass die Art und Weise auch Ausdruck dessen war, ob sie zu Fuß oder mit dem Auto zum Bahnhof kamen. Ich versuchte aus den alltäglichsten Entscheidungsbereichen wie dem Blicken auf die Armbanduhr oder der Art und Weise, wie jemand seine Autotür schloss, auf andere Verhaltensbereiche Rückschlüsse zu ziehen. Ich sammelte Einzelinformationen von Menschen, die ich nicht kannte, die kamen und gingen, die mir nur jedes Mal ein kleines Stückchen zurückließen, eine oder mehrere Entscheidungen.
Zunächst war das Sammeln dieser Informationen unsystematisch und unstrukturiert, getrieben von der einfachen Frage: „Warum reagieren Mensch so und nicht so?“ Alsbald musste ich erkennen, dass die unstrukturierte Datensammlung in ein Chaos führte, sich mehr Fragen auftaten, als ich Antworten erhielt. Daraufhin konzentrierte ich mich mehr auf pragmatische Dinge, die ich auch überprüfen konnte, wie etwa, ob es wahrscheinlich ist, dass jemand sein Reisegepäck unbeaufsichtigt abstellt, um sich Zigaretten, eine Zeitung oder eine Auskunft zu holen. Wer war wie angezogen und behielt sein Gepäck im Auge und wer ließ es auch nur für kurze Zeit unbeaufsichtigt? Jene Menschen, die es achtlos abgestellt hatten, wurden von mir höflich in meiner Funktion als Polizist darauf angesprochen, aber auch mit der Frage konfrontiert, warum sie es taten. So gab es eine große Bandbreite von Erklärungen, die ich wieder versuchte zu katalogisieren, zu kategorisieren und mit anderen Erscheinungsformen und anderem Verhalten in Verbindung zu setzen.
Dann ging ich dazu über, nachdem auch diese Vorgangsweise keine wirklich fruchtbringenden Ergebnisse lieferte, gezielt Menschen aus bestimmten Berufsgruppen anzusprechen, da ich annahm, dass auch sie aufgrund unterschiedlicher Beobachtungen unterschiedliche Entscheidungen treffen würden. Ich wollte deren Erfahrungswelten mit meinen vergleichen. So sprach ich mit Unterstandslosen, Bettlern, Prostituierten, Ausreißern und Drogensüchtigen. Die Prostituierten hatten bestimmte Auswahlkriterien über die Art des Augenkontaktes, die Handhaltung und die Bekleidung ihrer Freier, aus denen sie auf die Aggressivität und die Verlässlichkeit schlossen. Unterstandslose und Bettler bezogen ihre Erkenntnisse sehr häufig aus der Schuhtracht, aus der Art und Weise des Schmuckes und der Schulterhaltung einer Person und trafen daraufhin ihre Entscheidung, ob sie jemanden um Geld ansprachen oder nicht. Teilweise wurde
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