Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
scheinbar zu meiner eigenen Erfahrung zu machen.
Schließlich gab es aber auch Entscheidungen und Verhaltensweisen, die sich fern jeglicher Zuordnungsmöglichkeit in meinem Fundus wiederfanden, die scheinbar frei im Raum schwebend einer näheren Erläuterung harrten.
So erinnerte ich mich eines älteren Mannes, dem ich bei meinen nächtlichen Streifengängen in einem abgelegenen Bezirk immer wieder begegnete, den ich manchmal ansprach, der mich auch grüßte, mit dem eine normale Verständigung kein Problem darstellte und den ich trotzdem dabei beobachten konnte, wie er im Anschluss an unsere Konversation beim Weggehen bei jedem vierten Schritt einen imaginären Fußball vor sich herschoss, in geradezu grotesker Art und Weise die rechte Faust in die linke Hand schlug und jede Hausecke bewusst berührte. War er verrückt? War er krank? Was half diese Beurteilung? Nichts. Noch dazu waren die Wörter „verrückt“ und „krank“ keine Beurteilung, sondern eine einzige Verurteilung, damit bestenfalls die Basis für ein Vorurteil. Diese Vorgangsweise schloss eine weitere Befassung geradezu aus, weil sie nichts anderes tat, als festzuhalten: „Der ist anders als ich, ich tue so etwas nicht, ergo muss er verrückt oder krank sein.“ Was für ein Fehler!
Um die Möglichkeit zu eröffnen, objektiv das Verhalten anderer beurteilen zu können, sollte man grundsätzlich niemals selbst aufgrund seiner eigenen moralischen und ethischen Einstellung eine Beurteilung durchführen. Der Vergleich ist das Entscheidende.
Ich wagte zunächst nicht, ihn darauf anzusprechen, und als ich es schließlich tat, leugnete er, sich jemals so verhalten zu haben, aber ich konnte ihn zuordnen aufgrund seines Verhaltens. Selbst wenn ich in vollkommener Dunkelheit lediglich die Silhouette seines Körpers unter dem fahlen Schein einer Straßenlaterne beobachtet hätte, wäre mir sein Name eingefallen. Ich hätte mich dabei ertappt, dass ich gesagt hätte: „Da ist er wieder!“ Um sein Verhalten jedoch besser einordnen zu können, fehlten mir noch Erkenntnisse der Psychiatrie und Psychosomatik. Mit der zunehmenden Möglichkeit, all meine Beobachtungen strukturieren zu können, mit der intensiveren Beschäftigung mit Motivation und Verhalten musste ich zur Kenntnis nehmen, dass unser Körper zum Großteil von unserem Geist aus regiert wird. Der lateinische Satz: „Mens sana in corpore sano – Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ wurde für mich allmählich zum Synonym für eine verkehrte Betrachtungsweise. Mehr und mehr zeigten mir meine Beobachtungen, dass es vielleicht besser wäre zu sagen: ein gesunder Körper in einem gesunden Geist.
Wir sind nicht immer frei in unseren Entscheidungen. Wir legen uns außergewöhnliche Verhaltensweisen, ja teilweise sogar Krankheiten zu, weil wir nicht so handeln können, wie wir wollen. Erkenntnisse der Psychosomatik mussten her. Ich musste jenen Ansatz in meine Überlegungen mit einschließen, der mir das Beobachtbare am körperlichen Erscheinungsbild anderer Menschen besser erklärte.
Ich kramte in meinen Tausenden von Einzelbeobachtungen und erinnerte mich an magersüchtige, aber auch extrem dicke Menschen, bei denen ich, wenn ich eine Bandscheibe gewesen wäre, auch „vorgefallen“ wäre. Ich erinnerte mich an jene, die im Winter am Bahnsteig standen und schweißgebadet waren, obwohl sie keiner körperlichen Anstrengung ausgesetzt waren, und an solche mit außergewöhnlichen Hautveränderungen auf Nase, Mund und Lippe. Plötzlich war es für mich von Bedeutung, dass gewisse Menschen ein bestimmtes Verhalten nicht zeigen konnten und bei denen sich nach den Regeln der psychosomatischen Medizin deshalb eine körperliche Veränderung bemerkbar machte. Das Grundprinzip der Verhaltensbeurteilung wurde derart komplex, dass es drohte, einerseits zu explodieren und teilweise zu implodieren. Ein Verhalten alleine war nicht aussagekräftig. Mehrere Verhaltensweisen einer einzelnen Person konnten zwar theoretisch etwas bedeuten, waren manchmal auch erklärbar, die Schlussfolgerung konnte genauso gut aber auch falsch sein. Es gab einen psychologischen, einen psychosomatischen Ansatz, der zeitweise im Widerspruch zu dem stand, was man mir im persönlichen Gespräch offenbarte. Was war nun falsch? Was war nun wahr? Es gab offensichtlich keinen Ausweg aus dem Dilemma der Überinformation. Ich führte mein Studium zu Ende, stellte meine Beobachtungen ein und widmete mich dem Bereich der
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