Betreutes Trinken
Mysterium der Weltgeschichte entschlüsselt, und das noch vor zehn Uhr morgens.
Da ich so gut in Form bin, schaue ich nach, was eine durchschnittliche AK 47 wiegt. Das ist schon kniffliger. Das alte Model bringt 3,9 Kilo auf die Wage, allerdings ungeladen. Selbst wenn ich wüsste, ob Vladimir mir sein Souvenir samt Munition oder ohne anvertraut hat, müsste ich ja noch das Gewicht des Koffers abziehen, um auf verlässliche Zahlen zu kommen.
Ich recherchiere. Das vorliegende Model ist ein Fender Guitar Case Black Solex und wiegt 5,1 Kilo, ebenfalls ohne Munition. Meine Badezimmerwaage zeigt für den gesamten Koffer 9,9 Kilo an und 0 % Körperfett. Ich atme auf. Damit habe ich Leichenteile als Inhalt ausgeschlossen. Sonst nichts. Um mir ein weiteres Erfolgserlebnis zu gönnen, kehre ich auf mein Fachgebiet zurück.
Im Impressum der Saunajungs-Seite ist Gunnars Handynummer angegeben. Ich speichere sie ab. So kann ich mich möglichst gleichmütig melden, wenn er anruft. Ich probiere ein paar Varianten durch:
»Wer ist da? Ach Gunnar, Mensch, du schon wieder, ja ich bin grad in Berlin, ist ungünstig grade, ich melde mich bei dir, lass uns doch mal Kaffee trinken.«
Viel zu nett. Außerdem weiß ich gar nicht, was ich in Berlin zu tun hätte.
Wie wäre es damit? »Ach Gunnar, schön, dass du dich auch mal meldest. Du, die Katja hätte gerne die Hälfte der Hotelübernachtung von dir zurück, ich habe das mal ausgerechnet …«
Hervorragend. Damit komme ich nicht nur selbst wie eine verletzte Zicke rüber, sondern mache auch noch Katja zum Geizhals.
Ich denke über die wahrscheinlichste Ansage nach, die ich dem tollen Gunnar Thielen, früher Terstraten, bei seinem Anruf entgegenröcheln würde: »Gunnar? Du bist das? Was für eine Freude, nach all den Jahren. Komm’ mich doch mal besuchen, ich lebe jetzt im Altersheim ›Sonnenhügel‹, direkt in Bad Kreuznach. Ah, du hast keine Zeit. Lebst in Schottland. Auf einem Schloss, aha …«
So nicht, mein Lieber! Wütend drücke ich auf den Anruf-Knopf. Es tutet. Ich lege nicht auf, zur Belohnung meldet sich die Mailbox: »Hey, hier ist Gunnar, ich bin grad on the road …«
» On the road «? Wie peinlich ist das denn? Ich will auflegen, mich vor Lachen schütteln, die Akte Gunnar für immer unter »Wichtigtuer« abheften und schließen, danach flugs ein völlig neues Leben beginnen, aber der Ansagetext ist noch nicht beendet: »… Doris, wenn du das bist, ich weiß, wie sehr du Anrufbeantworter hasst, aber leg nicht auf.«
Ich lege auf.
Er denkt an mich. Er wird mich zurückrufen. Ich schalte mein Handy ab. Grinse. Dusche. Grinse immer noch. Finde im Internet einige total interessante Artikel über das Suchtverhalten von Vierzehn- bis Neunundzwanzigjährigen sowie eine Theatergruppe, die eine Art Musical zum Thema geschrieben hat. Grinse dabei. Ich schreibe an meinem freien Tag drei Anträge auf projektbezogene Förderung, grinse hochkonzentriert.
Als ich mit dem Produzenten des Jugendtheater-Stückes »Cool Drauf?!« telefoniere, höre ich auf zu grinsen und mache einen Termin mit ihm aus, im Anker, damit wir das Ganze besprechen können. Er freut sich. Ich freue mich, also grinse ich wieder.
Nun bin ich seit zwei Stunden Nichtraucher und fühle mich sauwohl dabei. Zur Belohnung für all meine guten Taten an diesem Tag stelle ich mein Handy wieder an.
Eine SMS von Katja, eine Nachricht von Gunnar. Katja schreibt: » Andi ist ein Vollidiot .«
Schön, wenn jemand eine unumstößliche Wahrheit endlich als solche annimmt, aber bevor ich meiner Freundin zu dieser Erkenntnis gratulieren kann, muss ich doch die Mailbox abhören: »Ja, hey Doris, Gunnar hier. Nehme mal einfach an, dass du das warst, die aufgelegt hat, als die Mailbox dranging.«
Niemand kennt mich so gut wie Gunnar, verzückt lausche ich seinen weiteren Worten: »Also, es geht um Folgendes: Ich habe am Samstag wohl den Schlüssel von der Bandkasse verloren, wäre also furchtbar nett, wenn du noch mal da im Hotel nachfragen könntest. Den Schlüssel kannst du mir dann schicken, und zwar an folgende Adresse …«
Es kommt nichts mehr nach der Adresse. Gar nichts. Kein »Danke«, kein »Ich vermisse dich«, kein »Ich weiß nicht mehr, wie ich ohne dich leben konnte«.
Ich lege mich wieder ins Bett, ohne die Anträge auf Projektförderung zu verschicken. Gegen Abend stehe ich noch mal auf, um den Flyer von dem Pizzabringdienst zu suchen, der auch Kippen mitliefert. Ja, das Leben ist eine wilde
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