Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
den Pfeilern geraten, wir sind nämlich blöderweise von der flussaufwärts gelegenen Seite gesprungen und das sollte man nur tun, wenn man wirklich ertrinken will. Der Sprung ist, wie gesagt, nicht das Problem.
Und als ich dann von den biestigen Strudeln hin und her geworfen wurde, muss ich wohl wirklich um mein Leben gekämpft haben, aber es war keine besonders intensive Erfahrung, ich war physisch viel zu herausgefordert, um Angst zu haben. Ich habe einfach versucht, oben zu bleiben.
Ich werde gegen die glitschige Betonwand der Brückenpfeiler gedrückt, wieder hinuntergezogen und komme am anderen Pfeiler wieder hoch, dann erfasst mich die Hauptströmung, ich kämpfe mich irgendwann in Richtung Fahrrinne vor und lasse die Brücke hinter mir.
Dort stoße ich mit einem Baumstamm zusammen und will mich festhalten. Es ist aber bloß Steffen und der geht sofort wieder unter. Steffen ist halb bewusstlos, dabei ist er hier der Rettungsschwimmer. Ich habe den Kurs doch abgebrochen, als Rieke nicht mehr hinwollte. Aber ich kann ihn ja schlecht ertrinken lassen, deswegen kratze ich alles Wissen aus drei Stunden DLRG – Kurs und einer Staffel Baywatch zusammen.
Ich wechsle in die Rückenlage, packe Steffen am Kinn, hebe seinen Kopf aus dem Wasser und lasse mich weiter von der Brücke wegtreiben. In der Mitte des Stroms ist eine Leuchtboje vertäut, man kann sie von der Brücke aus sehen. Sie ist ziemlich groß, hat eine Leiter, die ins Wasser führt, und einen Schwimmkörper, der genug Fläche für zwei Personen bieten müsste.
Wenn wir es bis dahin schaffen. Steffen ist ziemlich schwer, und im Fernsehen sieht sowas ja immer leichter aus.
Steffen beginnt sich wieder zu regen und will wissen, was denn passiert sei.
»Du bist in der Hölle und ich bin dein Sachbearbeiter«, sage ich und denke: Scheiße.
Hört das denn nie auf? Muss ich dem Kerl wirklich jedes Mal einen reinwürgen?
Er reißt sich los, bekommt einen Schwall Wasser in den Mund und gurgelt eine Antwort, die er später nicht wiederholen mochte. Später, als er zugeben muss, dass ich ihm das Leben gerettet habe. Ich lasse ihn los und wir schaffen es beide ziemlich problemlos zur Boje.
»Scheiße«, sagt Steffen, als er sich aus dem Wasser gewuchtet hat.
»Scheiße«, sage ich und lasse mich neben ihn fallen.
Im Gegenlicht sehen wir Rieke auf der Brücke stehen, sie fuchtelt wieder mit den Armen herum und schreit etwas, aber wir verstehen sie nicht.
Erst als der Druck in den Ohren und das Brummen im Schädel nachlassen, hören wir wieder und brüllen zurück.
Ja, es geht uns gut.
Nein, wir sind nicht verletzt.
Ja, wir sind wahnsinnig.
Nein, sie soll nicht die Polizei rufen.
Bloß nicht.
Was sollen wir der denn erzählen? Oder unseren Eltern. Oder sonstwem.
»Wir bleiben hier erstmal sitzen«, ruft Steffen, »irgendwas ergibt sich schon.«
Ich nicke. Der Plan ist so bescheuert, er hätte von mir sein können.
»Und ich?« schreit Rieke zu uns herüber. »Was ist mit mir? Was mache ich denn jetzt?«
Wir zucken beide mit den Schultern.
Sie tut mir leid, wie sie da steht, mit diesem fassungslosen Blick, den man sogar von hier aus erkennen kann. Aber das Einzige, was wir für sie tun können, ist, dass wir nichts mehr für sie tun. Das sollte mittlerweile klargeworden sein.
»Es tut mir leid!« ruft Steffen.
»Mir auch!«, rufe ich.
Rieke hebt die Hand, so als wolle sie zum Abschied winken, lässt sie dann aber wieder sinken und geht. Zwei Wochen später hat sie dann schon in Hamburg gewohnt.
Ich glaube, wir haben den Absprung geschafft, will ich sagen, aber das lasse ich lieber, und so verstreicht zum ersten Mal ein schlechter Witz ungenutzt. Ich fühle mich prompt geläutert.
Aber das ist bloß die Erleichterung, weil es endlich vorbei ist: Wir können einfach nicht mehr, Steffen würgt ein bisschen Wasser hervor und mir läuft die Rotze aus der Nase.
Erst später, als Steffen und ich rücklings auf der Plattform liegen und das Wasser gegen den Hohlraum des Schwimmkörpers pluckern hören, kommt die Angst zurück. Sie hat sich als Erschöpfung getarnt. Meine Beine beginnen zu zucken, meine Lippen werden blau, obwohl es wirklich nicht kalt ist, mein Herz pumpt wie verrückt und ich befürchte, ohnmächtig zu werden.
Steffen geht es ähnlich und wir fassen uns an den Händen, damit wir nicht wieder ins Wasser rutschen. Wir liegen nebeneinander und starren in den blassrosa Streifen, der sich immer weiter durch das milchige Grau des frühen
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