Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
erst recht auf, weil Tante Matthes ihm auch noch gönnerhaft seine Visitenkarte überreicht. »Art Consultant« hat er mit Kuli draufgeschrieben.
Ich finde das auch etwas übertrieben, aber Tante Matthes hat darauf bestanden. »Das hat Flair«, findet er.
Musa fuchtelt mit der linken Hand in der Luft herum und sucht nach Worten.
»Er ist ein …«
»Spinner«, ergänze ich. Matthes nickt zustimmend, aber Musa ist noch nicht zufrieden.
»Nein, er ist ein …«
»Vollspacken«, versucht sich Matthes in verbaler Selbsterkenntnis, aber Musa ist das Wort leider nicht geläufig.
»Wie heißt das, wenn sich einer immer ausziehen muss?« will Musa wissen.
»Aktmodell.«
»Nein, nicht so. Wegen Sex.«
»Ist das nicht allgemein üblich?«, fragt Matthes, und Musa stöhnt auf.
Musa spricht eigentlich fließend Deutsch, bloß wenn er sich aufregt, verlässt es ihn manchmal. Deswegen lässt er eine Tirade arabischer Zunge wider Matthes los, die vermutlich erläutert, was von Aktmodellen zu halten ist, die in seinen Kursen mit einer Erektion herumwedeln.
»Klingt toll«, befindet Matthes, als die letzten Rachen- und Zischlaute verklungen sind. »Was bedeutet es?«
»Perverser«, strahlt Musa glücklich. Endlich ist es ihm eingefallen, aber auf Arabisch hat es besser geklungen und fünf Minuten länger gedauert.
»Dann wäre das ja geklärt«, sagt Matthes, den diese Einschätzung wenig beeindruckt. Er hört sie nicht zum ersten Mal.
»Wir haben zu arbeiten, meine Herren«, spricht der Perverse und hat Recht. Die Bilder sind noch nicht fertig gehängt, unserem Künstler ist schlecht, der Ablauf der Vernissage muss durchgesprochen werden, und Horstis Lebenslauf, den Matthes an alle Besucher verteilen will, ist von vorne bis hinten gelogen. Ich nehme eins der kopierten Blätter vom Stapel und lese vor:
»Käpt’n Horsti Seelbrecht wurde vor 200 Jahren als Sohn von seinen Eltern sowie Hulk Hogan, Rex Gildo und Kapitän Iglu geboren.«
»Er konnte sich nicht entscheiden«, verteidigt sich Matthes, »da haben wir alle reingenommen, die er gut fand.«
»Seine Eltern waren nett. Er ist nicht geistig behindert«, lese ich weiter. »Er hat seine Eltern nie kennengelernt, weil er im Heim aufgewachsen ist, und er ist geistig behindert.«
»Da war nichts zu machen«, wendet Matthes ein, der den Text nach Horstis Angaben verfasst hat. »Darauf hat er bestanden.«
Das kann ich mir vorstellen. Horsti bildet sich nämlich erfolgreich ein, völlig normal zu sein, und er kann stundenlang von seinen Eltern erzählen. Nichts davon stimmt und das meiste hat er auch noch aus Vorabendserien geklaut. Meist ist er in einem Forsthaus oder in der Schwarzwaldklinik aufgewachsen.
»Als Kind war er Arzt«, lese ich denn auch weiter, »und hat im Schwarzwald gewohnt. Das Haus war aus Holz, hatte einen Balkon und alle waren glücklich und reich.«
»Das kann man nicht streichen«, sagt Matthes entschieden, bevor ich etwas einwenden kann. Er hat Recht. Denn was sollte man da auch hinschreiben? Ich weiß nicht viel über Horstis Kindheit und Lebenslauf, aber das wenige, was ich weiß, spielt in trostlosen öffentlichen Verwahranstalten der mittleren 70er Jahre, später dann in Obdachlosenheimen und Psychiatrien. Irgendwann hat sich Horsti als fabulöse Kunstfigur neu erfunden. Der Käpt’n Horsti, den ich kenne, weiß alles, kann alles und ist glücklich. Wenn er sich freut, dann tanzt er. Alle Geschöpfe sind seine Freunde und die Welt ist ihm freundlich zugeneigt. Und solange er Käpt’n Horsti sein darf, stimmt das ja auch.
Wenn er nicht Käpt’n Horsti sein kann, weil die Realität ausnahmsweise nicht mitspielen will, droht er schon mal damit, sich umzubringen. Glücklicherweise glaubt er, dass man dafür zwingend einen Abschiedsbrief schreiben muss, und weil Horsti nicht schreiben kann, muss ihm immer jemand dabei helfen. Meist mache ich das. Ich könne gut mit Horsti, sagt die Leiterin, aber das stimmt nicht ganz. Ich bin bloß der Einzige, der ihn nicht sofort von der Selbstmordidee abzubringen versucht, und merkwürdigerweise hilft das am besten.
Wir reden dann immer ein bisschen über mögliche Arten des Selbstmords und über die Dinge, die nach dem Ableben von Käpt’n Horsti ohne seine Aufsicht und Hilfe vonstattengehen müssten, wie zum Beispiel das Flippers-Konzert im nächsten März. Flippers-Konzerte sind für Horsti Pflicht, er steht dabei immer in der ersten Reihe und singt jede Zeile sehr laut mit. Falls die mal
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