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Betrug und Selbstbetrug

Betrug und Selbstbetrug

Titel: Betrug und Selbstbetrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Trivers
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Mem – kein eigentliches Virus, das leicht eine ganze Bevölkerungsgruppe in die Knie zwingen könnte, sondern ein Gedankensystem, das sich so fortpflanzt, als wäre es ein Virus, und dabei diejenigen schädigt, die dem jeweiligen Glauben anhängen. 1 Trotz seiner negativen Auswirkungen schafft es aber offenbar keinen ausreichenden Selektionsdruck, der die Ausbreitung dieses Nicht-Organismus, der nicht der Coevolution unterliegt, unterdrücken würde. Dies ist also keine sehr stichhaltige Begründung für eine Evolutionstheorie der Religion, und sie verführt zu unbegründetem Optimismus, was die Lebensdauer der heutigen Religionen betrifft, wie etwa in dieser Aussage eines Vertreters der Mem-zentrierten Sichtweise: »Ich rechne damit, dass ich noch zu meinen Lebzeiten Zeuge werde, wie die machtvolle Mystik der Religionen sich in Luft auflöst. Nach meiner Überzeugung werden sich nahezu alle Religionen in 25 Jahren zu ganz anderen Phänomenen weiterentwickelt haben, so dass Religion in den meisten Kreisen nicht mehr die gleiche Ehrfurcht hervorrufen wird wie heute.« Ich halte es für wahrscheinlicher (allerdings nicht für sehr wahrscheinlich), dass Evolutionsbiologen und Philosophen in 25 Jahren vor den dann herrschenden religiösen Gruppen in Deckung gehen müssen. In 50 Jahren wird niemand, der sich den Zeh angestoßen hat, sagen: »Lieber Darwin, lieber Charles Darwin, das tut aber weh!« Vielmehr wird man immer noch sagen: »Du lieber Gott, das tut aber weh!«
    Gleichzeitig halten viele, viele Menschen die Religion für die allein gültige Wahrheit des Allmächtigen – oder genauer gesagt, glauben sie, ihre Religion sei das. Manche haben ein Buch – die Thora, die Bibel, den Koran –, von dem sie glauben, jedes seiner Worte sei wahr, oft sogar buchstäblich. Ihre Ansicht ist ebenso schlecht begründet wie die Geschichte von den ansteckenden Memen und scheint auf den ersten Blick nicht mehr zu sein als eine tief verwurzelte Form der Selbstrechtfertigung. Während die eigene Religion Gottes Wahrheit offenbart, werden konkurrierende Religionen häufig als wahrheitswidrig betrachtet, oder als Werk des Teufels, der letztlich das Ziel ist. Zu Beginn wollen wir deshalb zwei sehr extreme Ansichten über Religion betrachten; die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen, aber wo genau und warum?
    Zunächst einmal müssen wir zwischen dem Wahrheitsgehalt religiöser Aussagen und dem möglichen Nutzen des Glaubens an sie unterscheiden, und ebenso müssen wir eine Grenze ziehen zwischen der Teilnahme an religiösen Zeremonien und dem Wahrheitsgehalt, den man ihnen zuschreibt. Dann müssen wir Glaubensüberzeugungen und Verhalten eingehend analysieren, um so den Sinn und die Funktion bestimmter Glaubensüberzeugungen bewerten zu können. Nach meiner Überzeugung läuft innerhalb der Religionen häufig ein Konflikt zwischen allgemeiner Wahrheit und der falschen Aussage Einzelner oder ganzer Gruppen ab. Mit anderen Worten: Das eigentliche Wesen der Religion ist weder Selbsttäuschung noch tiefe Wahrheit, sondern eine Mischung aus beidem, wobei die Selbsttäuschung häufig gegenüber der Wahrheit die Oberhand behält.
    Religion stärkt in der Regel die Kooperation innerhalb der religiösen Gruppe auf Kosten der Zusammenarbeit mit Außenstehenden. Dazu gehören häufig falsche historische Darstellungen und eine kollektive Selbsttäuschung: »Wir sind das auserwählte Volk oder das ursprüngliche Volk der Schöpfung oder diejenigen, deren Glauben [zum Beispiel an die göttliche Natur Jesu] für Gott der Anlass ist, uns zu bevorzugen [oder was auch sonst].« Kurz gesagt, dienen Religionen häufig als Matrize für eine voreingenommene Unterscheidung zwischen Gruppenmitgliedern und Außenstehenden. Soweit sie die Kooperation innerhalb der Gruppe begünstigen, bringen sie viele Vorteile mit sich, wenn sie aber für die Geschlossenheit einer Gruppe bei aggressiven Angriffen auf Außenstehende sorgen, hat diese Kooperation ihren Preis: Anderen wird Schaden zugefügt, und wenn der Angriff in einem Fehlschlag endet (was bei der Kriegsführung in ungefähr der Hälfte der Fälle geschieht), erleidet man selbst Schaden.
    Gleichzeitig bieten bestimmte Aspekte der Religion ein Rezept für die Selbsttäuschung, denn sie streifen dem rationalen Denken nahezu alle Fesseln ab. Das von einer Religion vertretene, allgemeingültige System der Wahrheit verleiht den Gläubigen in der Regel eine Sonderstellung. Phantastische Szenarien

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