Betrug und Selbstbetrug
verwandt wie mit ihren Brüdern) und später in Dutzenden von wissenschaftlichen Untersuchungen durch detaillierte Beobachtungen bestätigt. Natürlich werden Naturwissenschaftler erklären, solche »Voraussagen« beinhalteten keine Kenntnisse über die Zukunft, weil diese in Wirklichkeit im Nachhinein gewonnen wurden. Das ist das Schöne an Einsteins Vorhersage im Vergleich zu der über die Ameisen: Wie um alles in der Welt hätte Einstein im Voraus etwas über die Position der Sterne wissen können, die sich erst zehn Jahre später während einer Sonnenfinsternis zeigte? Dagegen kann man das Geschlechterverhältnis der Ameisen ohne weiteres genau studieren, bevor man eine Voraussage dazu macht.
An echte Wissenschaft wird noch eine weitere Anforderung gestellt. Wo immer möglich, soll sie auf vorhandenem Wissen aufbauen. Entscheidende Annahmen werden unter Umständen bereits durch vorhandene Kenntnisse widerlegt (oder gestützt), und wo es solche Kenntnisse nicht gibt, zeigt die Wissenschaft, welchen Wert es hat, sie zu gewinnen. Am teuersten sind Fehler beim Errichten der Fundamente – das gilt für Bauwerke wie auch für wissenschaftliche Fachgebiete. Dennoch besteht in vielen Bereichen der Sozialwissenschaft ein erstaunlich starker Widerstand dagegen, dieses Merkmal echter Wissenschaft zu übernehmen oder sich gar zu eigen zu machen (siehe unten).
Die Naturwissenschaften haben folgende Struktur: Die Physik gründet sich auf die Mathematik, die Chemie auf die Physik, die Biologie auf die Chemie, und die Sozialwissenschaften im Prinzip auf die Biologie. Der letzte Zusammenhang wäre zumindest inständig zu wünschen, und man kann hoffen, dass er bald hergestellt wird. Aber ein Fachgebiet nach dem anderen – von den Wirtschaftswissenschaften bis zur Kulturanthropologie – widersetzt sich nach wie vor den wachsenden Erkenntnissen über die Zusammenhänge mit dem biologischen Fundament, und das hat verheerende Folgen. Anstatt nur von Annahmen auszugehen, die den grundlegenden Kenntnisse nicht widersprechen, steht es einem frei, die eigene Logik auf alles zu gründen, was einem gerade einfällt, und diese Strategie in völliger Unkenntnis ihrer Nutzlosigkeit als Vollzeitbeschäftigung zu verfolgen.
Dagegen verlieh die Mathematik der Physik ihre Strenge, die Physik stattete die Chemie mit einem präzisen Atommodell aus, und die Chemie lieferte der Biologie ein exaktes Modell der Moleküle. Und die Biologie? Man sollte annehmen, dass sie viel zu geben hat – am wichtigsten ist dabei eine ausdrücklich formulierte, gut überprüfte Theorie des Eigeninteresses, aber auch ein ungeheuer breit gestreutes Spektrum von Befunden, darunter detaillierte Kenntnisse über viele grundlegende Variablen aus Immunologie, Endokrinologie und Genetik, die ansonsten im Verborgenen bleiben würden.
Je gesellschaftsbezogener das Fachgebiet,
desto rückständiger in seiner Entwicklung
In der Physik stellen wir uns vor, dass es herzlich wenig Selbsttäuschung gibt. Welche Bedeutung hat es für das Alltagsleben, ob der Gravitationseffekt des Myons positiv oder negativ ist? Überhaupt keine. Deshalb rechnet man damit, dass die Entwicklung des Fachgebietes relativ wenig durch Kräfte der Täuschung und Selbsttäuschung behindert wird – mit einer Ausnahme. Physiker stellen die Bedeutung und den Wert ihrer Arbeit gegenüber anderen übermäßig stark heraus. Sie sprechen von einer »Theorie für alles« und formulieren andere hochtrabende Behauptungen, aber gesellschaftlichen Nutzen hat ihre Wissenschaft nach meiner Überzeugung vorwiegend in Verbindung mit der Kriegsführung. Ihre wichtigste Funktion bestand darin, größere Bomben zu bauen, die präziser und über größere Entfernungen hinweg platziert werden können, und dies war vermutlich bis zurück in die Vorgeschichte ihre Hauptfunktion. Wenn ich lese, dass neun Milliarden Euro für einen Super-Teilchenbeschleuniger ausgegeben werden, in dem man winzige Teilchen auf unglaubliche Geschwindigkeiten beschleunigt und dann zusammenprallen lässt, denke ich an Bomben. Dieser Faktor dürfte dazu führen, dass für die Physik und manche ihrer Unterdisziplinen mehr Mittel aufgewandt werden, als objektiv sinnvoll wäre, aber auf den Aufbau der Theorie dürfte dies kaum Auswirkungen haben.
Nach meiner Überzeugung ist es für die Entwicklung der sehr handfesten, hochentwickelten Wissenschaft der Physik ein entscheidender Faktor, dass ihren Forschungsobjekten jegliche
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