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Betrug und Selbstbetrug

Betrug und Selbstbetrug

Titel: Betrug und Selbstbetrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Trivers
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gesellschaftlichen Bezüge und Inhalte völlig fehlen. Allgemeiner lautet mein Gedanke: Je mehr sozialen Inhalt ein Fachgebiet hat, desto langsamer entwickelt es sich, weil es unter anderem größeren Kräften der Täuschung und Selbsttäuschung ausgesetzt ist, die den Fortschritt behindern. Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Wirtschaftswissenschaften haben unmittelbaren Einfluss auf das Bild, das wir von uns selbst und anderen zeichnen; deshalb kann man damit rechnen, dass schon ihre Struktur leicht durch Selbsttäuschung verzerrt wird. Das Gleiche lässt sich über manche Teilgebiete der Biologie sagen, insbesondere die Sozialtheorie und (getrennt davon) über die Humangenetik. Viele dieser Illusionen haben gemeinsam, dass Funktionen auf einer höheren Ebene (beispielsweise der Gesellschaft anstelle des Individuums) interpretiert werden, als es angebracht wäre.
    Selbsttäuschung in der Biologie
    Ungefähr ein Jahrhundert lang analysierten Biologen die gesellschaftliche Welt nahezu verkehrt herum. Die natürliche Selektion, so ihre Argumentation, begünstigt alles, was der Gruppe oder der Spezies nützt. In Wirklichkeit begünstigt sie das, was für das Individuum (gemessen am Maßstab von Überleben und Fortpflanzung) nützlich ist – Darwin wusste das sehr gut. Genauer gesagt, wirkt die natürliche Selektion auf die Gene eines Individuums ein, die ihr eigenes Überleben und ihre Fortpflanzung begünstigen; in der Regel ist dies gleichbedeutend mit dem, was dem Individuum, das die Gene weitergibt, nützt. Aber fast von dem Augenblick an, als Darwins Theorie zum ersten Mal veröffentlicht wurde, kehrten Wissenschaftler immer wieder zu der älteren Ansicht zurück, es müsse den Nutzen für eine höhere Ebene (Spezies, Ökosystem und so weiter) geben, nur führten sie zur Unterstützung ihrer Überzeugung jetzt Darwin an. Diese falsche Vorstellung wiederum war genau die Form einer Gesellschaftstheorie, die man von der gruppenweise lebenden Spezies der Menschen erwarten sollte, deren Mitglieder sich zunehmend mit der Gruppenorientierung des jeweils anderen beschäftigen. Mit Hilfe dieser Theorie kann man individuelles Verhalten rechtfertigen, indem man behauptet, es nütze der Gruppe (beispielsweise wenn Mord als Mittel zur Kontrolle der Bevölkerungszahl gerechtfertigt wird), und man kann damit das Ideal einer konfliktfreien Welt formulieren.
    Ein klassisches Beispiel ist der Säuglingsmord durch Männchen, der zuerst an indischen Languren (Schlankaffen) untersucht wurde und heute bei mehr als 100 Tierarten bekannt ist. 2 Dass Männchen von ihnen abhängige Jungen (die von einem anderen Männchen gezeugt wurden) töten, wurde rational als Mechanismus zur Populationssteuerung erklärt, der verhindert, dass die Spezies sich um Kopf und Kragen frisst. Demnach, so sagte man, dient der Mord durch die Männchen dem Interesse aller. In Wirklichkeit ist das natürlich nicht der Fall. Da ein Junges, das noch gesäugt wird, den Eisprung der Mutter verhindert, versetzt der Mord des Säuglings die Mutter schneller wieder in einen empfängnisbereiten Zustand, was der Fortpflanzung des Männchens dienlich ist, dafür aber von dem toten Säugling und seiner Mutter einen hohen Preis fordert. In manchen Populationen werden bis zu zehn Prozent aller Jungen von ausgewachsenen Männchen ermordet – und jeder Mord verschafft dem Männchen im Durchschnitt nur zwei Monate mehr Zeit bei der Mutter. Anders als man erwarten würde, wenn das Verhalten der Populationssteuerung dienen würde, haben solche Todesfälle nichts mit der Bevölkerungsdichte zu tun, sie stehen aber im Zusammenhang damit, wie häufig Männchen zu Oberhäuptern neuer Gruppen aufsteigen. Wie solche Beobachtungen gezeigt haben, erlegt die natürliche Selektion der Männchen jeder Generation unter Umständen gewaltige soziale Kosten auf, obwohl der Nutzen für die Männchen (zwei Monate weiblicher Empfängnisbereitschaft) im Vergleich zum Verlust der Mutter (zwölf Monate Brutpflege) gering ist.
    Berühmt wurde auch die Argumentation, die Aggression der Männchen nütze der Spezies, weil es stets besser sei, wenn das stärkere von zwei Männchen ein beliebtes Weibchen unter seine Kontrolle bringe. 3 Aber genau das entspricht nicht den Beobachtungen. Ob ein Männchen, das mit seiner Aggression Erfolg hat, andere Genvarianten besitzt, die für seine Nachkommen nützlich sind, ist nicht geklärt, aber diese Frage muss in jedem Einzelfall (vor allem von dem

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