Betrug und Selbstbetrug
gebetet wie früher. Unterwirf dich dem Willen des Herrn, und dann sei du selbst.
Wenn wir wirklich aus Erfahrungen lernen wollen – wenn wir also die Wahrscheinlichkeit, dass wir den gleichen Fehler noch einmal begehen, reduzieren wollen –, reicht es nicht aus, wenn wir das Phänomen nur betrachten und sagen: »Da ist sie wieder, die gute alte Selbsttäuschung.« Damit hat man zwar eine unterhaltsame Anekdote, aber die dahinterstehende Dynamik ändert sich nicht. Zu diesem Zweck müssen wir uns auf einer viel tiefer liegenden Ebene mit uns selbst und unseren Unzulänglichkeiten auseinandersetzen, die oft von Tränen und Demut durchtränkt sind. Und selbst dann muss in der Regel eine tägliche, gegen die alten Verhaltensweisen gerichtete Meditation hinzukommen, damit überhaupt die Chance besteht, dass es funktioniert. Die eigene Selbsttäuschung im Nachhinein zu betrachten, ist das eine, aber ihre Häufigkeit für die Zukunft zu verringern, stellt ein viel tiefer liegendes Problem dar.
Der Wert von Freunden und Beratern
Wie wir in Kapitel 6 erfahren haben, ist die Aufdeckung von Traumata, selbst wenn sie nur einem Tagebuch anvertraut werden, von Nutzen für Immunfunktion und Stimmungslage; dies gilt vermutlich mindestens genauso stark, wenn man das Trauma einem Freund oder Berater mitteilt. Berater sind manchmal notwendig, weil wir nicht bereit sind, zutiefst persönliche Themen selbst gegenüber unseren engen Freunden offenzulegen, aber wir tun es gegenüber einem Menschen, der von Berufs wegen zur Verschwiegenheit verpflichtet ist und dem wir in der Regel nur während der Beratungsgespräche begegnen.
Freunde sind auch als Kommentatoren unseres Lebens nützlich. Ich unterhalte mich mit einem Freund über eine missratene Begegnung, und erzähle ihm, dass ich daran denke, die betreffende Person anzurufen und ihr eine Dosis gezielter Beschimpfungen zu verabreichen. Er spricht sich immer dagegen aus und ist in seinem Urteil viel freier als ich, denn er leidet nicht an meinen Gefühlen, sondern fragt einfach nur, welche Konsequenzen mein Handeln haben wird. Wie werde ich mich hinterher fühlen, welchen Nutzen wird es mir bringen und welche neuen Schmerzen wird man mir aufgrund meines boshaften Verhaltens zufügen?
Freunde haben noch einen anderen Vorteil: Sie sehen die zwischenmenschlichen Beziehungen von außen, als wären die anderen Schauspieler in einem Theaterstück. Ich selbst wirke an dem Schauspiel mit, sie aber nicht. Sie sehen, was ich nicht sehe. Häufig betrachten wir eine politische Führungsgestalt und sagen: »Es liegt doch auf der Hand, was du tun solltest.« Für denjenigen jedoch, der in der Situation befangen ist, liegt es durchaus nicht auf der Hand. Als Baum unter Bäumen fällt es ihnen viel schwerer, den Wald zu sehen. Mir ist oft der Gedanke durch den Kopf gegangen, dass Theaterstücke vor allem deshalb so beliebt sind, weil das Publikum alles sieht, während die Mitwirkenden durch ihre Position auf der Bühne eingeschränkt sind.
Eine Einladung zur Selbsttäuschung und
zu einer persönlichen Katastrophe
Man sollte sich darum bemühen, übermäßiges Selbstvertrauen und unbewusstes Handeln zu vermeiden. Beide sind gefährlich, und gemeinsam können sie, wie wir es am Beispiel mehrerer Flugzeugabstürze eindringlich erfahren haben, tödlich sein. Eine besondere Form des Verhaltens ist das Imponiergehabe: Wir geben uns übermäßig selbstbewusst und spielen uns absichtlich auf, um andere zu beeindrucken. Dies kann zu einem üblen Missverhältnis zwischen Verhalten und Realität führen, das einen entsetzlich hohen Preis fordern kann. Ich selbst hätte ihn einmal beinahe bezahlen müssen, als ich in den Blue Mountains nördlich von Kingston in Jamaika in einer Höhe von mehr als 1000 Metern an einer Expedition zum Sammeln von Eidechsen teilnahm. Mein angeheirateter Neffe, ein muskulöser junger Mann, fuhr das Auto, das geradezu nach Muskeln verlangte: Sein viel zu kleines Lenkrad ließ sich nur mit großem Krafteinsatz ordnungsgemäß bewegen. Zu der Gruppe gehörte eine junge Frau, die angeblich mit mir zusammen war, nun aber offensichtlich so viel Bewunderung dafür hegte, wie mein Neffe dank seiner Muskelkraft die schwierige Straße meisterte, dass es mir unangenehm wurde. Also übernahm ich das Steuer. Wenig später bogen wir zu schnell um eine Kurve, die zu beherrschen ich nicht genügend Kraft hatte, und der Wagen rutschte langsam auf den Abgrund zu; schließlich wurde er von
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