Bettler 03 - Bettlers Ritt
Selbstverständlich.
»Hallo, Großmutter«, sagte Miranda Sharifi dreihundert Kilometer über der Erde. Sie und die anderen Schlaflosen der dritten Generation waren nun schon seit Jahren im Besitz von Sanctuary, der Orbitalstation, die Jennifer gebaut hatte, um den Schlaflosen Sicherheit zu gewährleisten. Jennifer hatte nichts übrig für Ironie.
Miranda sagte nicht willkommen daheim, und kein Lächeln durchzog ihre unscheinbaren Gesichtszüge, die umrahmt waren von dem übergroßen Schädel mit dem widerspenstigen schwarzen Haar. Jennifer sah ihre Enkelin an und erinnerte sich – und hielt ihren Zorn im Zaum. Es war Miranda gewesen, die Jennifer Sharifi ins Gefängnis gebracht hatte.
Mit ihrer klaren Stimme sagte Jennifer: »Ab sofort nehme ich Sanctuary wieder in Besitz. Nach dem Gesetz ist es immer noch mein Eigentum. Die Vollmacht deines Vaters, als mein Sachwalter zu fungieren, ist durch meine Freilassung hinfällig geworden. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden werdet ihr beide die Orbitalstation verlassen, zusammen mit den sechsundzwanzig anderen SuperSchlaflosen und all denen, deren geschäftliche Interessen eng mit den euren verknüpft sind. Andernfalls werde ich die ganze rechtliche Bandbreite jener korrupten Staatsmacht gegen euch einsetzen, die ihr gegen mich eingesetzt habt.«
Mit ausdruckslosem Gesicht sagte Miranda: »Wir werden Sanctuary verlassen.« Der Bildschirm war leer.
Will griff nach Jennifers Hand.
Der Wagen näherte sich einer Sicherheitskuppel aus Y-Energie im Zentrum einer Hochebene in den Appalachen. Alte, verwitterte Hügel mit abgerundeten Gipfeln senkten sich hinab ins dunkle, blättrige Grün – nichts davon GenMod. Will signalisierte ihr Kommen, und der Sicherheitsschild öffnete sich. Der Wagen landete auf dem Dach eines aus Stein in Nanotechnik gebauten Hauses, das auf einer kleinen Erhebung stand. Sie stiegen aus.
Unter Jennifer erstreckte sich ein Wiesenhang mit Klee und Löwenzahn und Bienen hinab zu einem glitzernden Flüßchen, das am Nordende der Wiese zu einem Wasserfall wurde. Im Hintergrund standen die Berge in blauen Dunst gehüllt wie Kathedralen im Nebel. Darüber spannte sich ein milchweißer Himmel, der im Westen schwach golden leuchtete.
»Du bist daheim«, sagte Will leise.
Jennifer betrachtete es – alles rundum: das Haus, die Wiese, die Berge, den Himmel, das Land. Ihre Gesichtszüge veränderten sich nicht, sie schloß nur die Augen, um den sorgsam genährten Zorn besser zu sehen. »Das – ein Daheim? Niemals. Das ist nur ein Kriegsschauplatz.«
Will nickte langsam und lächelte, und dann traten sie ins Haus.
Buch I
NOVEMBER 2120
–
JANUAR 2121
Wenn Wünsche Pferde wären, könnten Bettler reiten.
– John Ray,
Englische Sprichwörter, 1670
1
Da lag sie. Auf dem Gehsteig der Madison Avenue in der Enklave Manhattan-Ost. Sie sah fast aus wie ein dürrer Zweig, den ein defekter WartungsRob übersehen hatte. Aber es war kein außergewöhnlich gerade gewachsener Zweig und auch kein verlorenes Lasermesser und auch nicht der Rest einer schwarzen Linie, die jemand auf dem Nanobelag des Betons gezogen hatte. Es war eine Umstellungsspritze.
Doktor Jackson Aranow hob sie auf.
Sie war leer, und niemand konnte sagen, vor wie langer Zeit man sie benutzt hatte. Das schwarze Metall, aus dem sie bestand, rostete nicht, zerfiel nicht und widerstand allen Versuchen, es zu beschädigen. Jackson konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine solche Spritze draußen hatte herumliegen sehen. Vor drei oder vier Jahren vielleicht. Er drehte sie zwischen den Fingern wie ein Stöckchen, blickte daran entlang wie durch ein Teleskop, zielte damit auf ein Gebäude und sagte: »Peng!«
»Willkommen!« sagte das Gebäude. Jacksons ausgestreckter Arm hatte ihn in die Reichweite des Sensors gebracht. Er steckte die Spritze in die Tasche und betrat den Sicherheitsvorbau.
»Doktor Jackson Aranow. Zu Miss Ellie Lester, bitte.«
»Ein klitzekleines Momentchen nur, Sir… So, bitte schön, treten Sie ein, Sir! Immer gern zu Diensten, Sir!«
»Danke«, sagte Jackson steif. Er konnte Häuser mit einem affektierten Akzent nicht leiden.
Die Eingangshalle wirkte rundum teuer und grotesk. Auf dem Boden war eine Straße aus gelben Klinkersteinen programmiert, die alle dreißig Sekunden eine neue Richtung nahm und immerzu vor leeren Wänden endete. Eine neongrüne Venus mit einer Digitaluhr im Bauch stand auf einem
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