Betty kann alles
großen Speisesaal», setzte sie hinzu.
Die nächste Stellung, die sie mir verschaffte, war bei einer Fotografin. «Diese süße Person hat ein fotografisches Atelier gleich hier ein paar Häuser weiter. Sie braucht jemanden, der ihre Aufnahmen koloriert, und sie hat schrecklich viel zu tun.»
«Ist die Tatsache, daß ich bisher noch nie in meinem Leben eine Fotografie koloriert habe, von irgendwelchem Interesse für dich?» fragte ich gelassen.
«Nein, nicht im geringsten», erwiderte meine Schwester nicht minder gelassen. «Ich kenne nämlich jemanden, der sich darauf versteht, und sie will es dir heute nachmittag zeigen. Sie heißt Charmion, und sie arbeitet da drüben in dem Sportgeschäft. Du brauchst bloß hinüberzugehen.»
Charmion hatte grüne Augen und lange schwarze Haare auf Armen und Beinen, und während sie mir beibrachte, wie man Wattebäusche in Farben tauchte und damit Fotografien kolorierte, verkaufte sie Bälle, Golfstöcke und Köder, berichtete ihre Erlebnisse mit drei Ehegatten und vier Liebhabern und nahm im Verlauf von zwei oder drei Stunden den Inhalt von vier Fläschchen Mutterkornextrakt zu sich, das – wie sie mir anvertraute – ungemein anregend auf sie wirke. Um halb sechs Uhr hatte Charmion eine Verabredung bei der Wahrsagerin, um sich aus der Hand lesen zu lassen, und da ich schon recht gut zu kolorieren verstand, gingen Mary und ich heim.
Am nächsten Morgen – selbstverständlich regnete es – machte ich mich, gewappnet mit meinen frisch erworbenen Kolorierkenntnissen und dem Wissen, daß wir unbedingt neuen Kohlenvorrat brauchten, zu Marilees Foto-Studio auf den Weg. Das schmale, zweistöckige Gebäude, in dem sich das Studio befand, machte den Eindruck einer schmalbrüstigen Person, die sich vor dem Regen in eine dunkle Seitengasse geflüchtet hat. Die Straße, an der es lag, stieg so steil an, daß zu beiden Seiten Geländer angebracht waren, und die kleinen Läden rechts und links wirkten alle, als stützten sie sich an die höhergelegenen Nachbarn oder lehnten sich schwer über die daruntergelegenen.
Das kleine Schaufenster des Ateliers war durch einen unansehnlichen beigefarbenen Vorhang in halber Höhe umrahmt. Auf einem malerisch drapierten, entsetzlich schäbigen Stück grünem Samt waren kolorierte Fotografien unternehmungslustig dreinschauender Mädchen, bebrillter Bräute und kühner Matrosen mit ihren Schätzen ausgestellt. Sämtliche abkonterfeiten Personen ähnelten einander, was wohl daher kam, daß die Bilder ausnahmslos nach dem gleichen Schema koloriert waren. Wangen und Lippen waren knallrot, die Pupillen wiesen weiße Pünktchen auf, die Augenwinkel wurden mit roten Tupfen bedacht und weibliche wie männliche Nasenlöcher erhielten rote Umrandung.
Ich wollte mein zukünftiges Wirkungsfeld betreten, aber die Türe war noch verschlossen, und so preßte ich mich, um dem Regen auszuweichen, an den Türrahmen und beobachtete während der nächsten Viertelstunde die Mädchen, die ihrer Arbeit zustrebten. Hügelaufwärts keuchten sie mit vorgestrecktem Kinn, das Gesicht rot vor Anstrengung, hügelabwärts stelzten sie mit steifen Knien und bei jedem Schritt mit den glänzend schwarzen Gummischuhen auf dem glitschigen Pflaster nach Halt tastend.
Schließlich bog ein Paar besonders spitzer und glänzend schwarzer Galoschen in Richtung des Fotoateliers ein, und ich wußte auf den ersten Blick, daß ich Marilee vor mir hatte, denn sie sah haargenau wie die Fotografien in ihrem Schaufenster aus, sogar die randlose Brille, die die Nasen der meisten Bräute schmückte, trug sie, nur war ihr Haar aschblond anstatt tiefschwarz oder orange.
Marilee lachte mir zu, sagte: «Naß genug, was?» und schloß die Türe auf. Das Atelier war rundum mit einem sackleinwandähnlichen häßlichen Stoff bespannt; auf dem Boden lag auf Hochglanz poliertes gemustertes senffarbenes Linoleum. In einer Ecke stand ein kleiner Schreibtisch und gleich beim Schaufenster ein Tisch, der durch einen Wandschirm verdeckt wurde. Ein in die hinteren Regionen führender Durchgang war mit einem grünen Vorhang verkleidet. Und wohin man sah, hingen die kolorierten Bilder der bebrillten Bräute, der unternehmungslustigen Mädchen und der Matrosen nebst ihren Schätzen. Nicht ein einziges Bild eines Kindes oder eines Mannes in Zivil oder einer Mutter war zu erblicken. Entweder nahm Marilee prinzipiell weder Kinder noch Männer in Zivil und ältere Frauen auf, oder sie erschienen ihr nicht reizvoll
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