Betty kann alles
Gehorsam setzte ich meinen Namen auf das Papier. «Schwarz oder braun?» fragte sie sachlich, worauf ich mir das Dokument näher ansah und feststellte, daß ich unterschrieben hatte, keinerlei Ansprüche an die «La Charma» Schule für Schönheitspflege zu stellen, falls ich als Folge der Behandlung erblinden sollte.
«Ich verstehe nicht ganz…» hub ich schüchtern an. «Ich komme von der Reklamefirma…» «Ach, ich dachte, Sie seien die Kundin, die für zehn Uhr bestellt ist», lachte der scharlachrote Mund. «Wimpern färben. Gehen Sie nur rein. Mrs. Johnson möchte gern einen Brief, der sich an die Mädchen richtet, die im Juni aus der Schule kommen.» Ich sank beinahe in Ohnmacht. Jemand wartete direkt auf mich. Mein erster Erfolg harrte meiner.
Mrs. Johnson sah so ähnlich aus wie das Mädchen am Schreibtisch, nur waren ihre Haare blond. Sie war sehr nett, bot mir eine Zigarette an und fand meine Briefe sehr gut und «voll Saft und Kraft». Ich verließ Mrs. Johnson mit einem schönen Auftrag und überlegte, daß Reklame-Ideen zu verkaufen vielleicht doch einfacher sei als Prostitution.
Angespornt von meiner letzten Erfahrung, betrat ich eine Schuhreparaturwerkstatt. «'s Geschäft ist miserabel», erhielt ich gleich einen Dämpfer von einem kleinen, dunkelhaarigen Mann. «Hat gar keinen Sinn, dem schlechten Geld noch gutes nachzuschmeißen. Gute Arbeit macht für sich selbst Reklame. Los, gehen Sie, ich hab keine Zeit.»
Mein Abzug war bedeutend weniger strahlend als mein Einzug in die Werkstatt. Ich ging zurück in das Reklamebüro, wo Mary gerade einem Graphiker Anweisungen erteilte. Sie war so begeistert über meinen ersten Auftrag, daß ich von den verschiedenen Mißerfolgen nichts berichtete. Wir nahmen unsere belegten Brote, die wir von daheim mitzunehmen pflegten, wenn wir nicht zum Mittagessen verabredet waren, und gingen zum Markt, wo man für 5 Cents so viele Tassen guten frischen Kaffee bekommen konnte, wie man zu trinken Lust hatte, und wo man außerdem an den langen Tischen in einem großen Schuppen sitzen konnte, der der Kaffeekompanie gehörte.
Der Markt zog sich etwa drei Straßen hin; es roch herrlich nach frischem Brot, Kaffee, gerösteten Nüssen, frischen Fischen und Früchten, und Obst und Gemüse leuchteten in gelber, roter und grüner Farbenpracht aller Schattierungen. An Hunderten von Ständen zu beiden Seiten der Straße boten Griechen, Italiener, Norweger, Finnen, Dänen, Japaner und Deutsche ihre Waren an. Die Italiener waren die zungenfertigsten und verstanden es am besten, ihre Artikel anzupreisen, aber die Gemüse der Japaner waren unübertrefflich.
Der Markt, auf dem man, angefangen von türkischem Kaffee und seltenen Büchern bis zu Bärenfleisch und Fischködern, alles finden konnte, war das Einkaufsmekka von Seattle und ein wahres Paradies für alle diejenigen, die gern gute Dinge aßen, jedoch wenig Geld hatten. Abgesehen von Ständen mit allen möglichen Delikatessen und Kaffeeausschank gab es in nächster Nähe griechische, norwegische, türkische, italienische und deutsche Restaurants in reicher Auswahl.
Mir gefiel beim Markt am besten, daß jedermann freundlich war und seinerseits versuchte, mir etwas zu verkaufen, anstatt daß ich der verkaufende Teil war. Die Händler riefen einen an und redeten einem zum Kaufen zu, und obwohl die Wirtschaftskrise die Leute auf dem Markt genauso spürbar traf wie alle anderen, waren sie doch freundlich, lachten einem zu, und jeder freute sich über jeden. Ein schlanker dunkelhaariger Obsthändler namens Louis, der ein großer Verehrer roter Haare war, schenkte uns eine Tüte voll Malagatrauben und zwei Bananen. «Nachtisch zu euren belegten Broten», sagte er lachend.
Die Speisehalle befand sich im dritten Stock des Lagerschuppens. Wir kletterten die drei Treppen hoch, holten uns unseren Kaffee und kletterten eine weitere Treppe hinauf, wo unsere Freunde uns an dem großen Tisch beim Fenster stets Sitze freihielten. Von hier aus bot sich einem ein herrlicher Ausblick über das Ufer, den Sund und die Inseln. Unsere Freunde setzten sich größtenteils aus Künstlern, Graphikern der Reklamebranche, Journalisten, Schriftstellern, Musikern und Leuten, die mit Buchhandel zu tun hatten, zusammen, und sie alle nahmen ihre belegten Brote ohne Hemmungen aus den mitgebrachten Papiertüten.
Bankangestellte, Versicherungsreisende und Anwälte hatten ihre Aktentaschen, in denen sich gut Milchflaschen oder Konfitüregläser mit Pudding
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