Betty kann alles
Zehner aus Marys und meinen Zehnerkarten. An einem Abend zählten wir zweiundsiebzig Dollar, alles in Zehnem. Den ganzen Tag stürmten Leute das Büro, erwarben ihren Anteil an der verheißenen Prosperität und rasten dann los, um ihre Aktien zu verkaufen und eine Kette zu beginnen. Natürlich war ich mir klar darüber, daß dieses herrliche Spiel einmal ein Ende haben mußte, denn schließlich hat Seattle nur 300 000 Einwohner, aber wie bald und auf welche Weise das Ende kam, hatte ich nicht vorausgesehen.
Die Geschichte lief ungefähr sechs Wochen, als eines Morgens ein dicker Kerl an meinen Schreibtisch trat und mich aufforderte, ihm die Geschichte zu erklären. Ich tat dies mit viel Geduld und sehr ausführlich, und der dicke Mann erwiderte: «Das genügt, Mädchen. Die Bude wird geschlossen.» Woraufhin er eine Horde Polizisten herbeirief, die Gummiknüppel schwingend das Büro überschwemmten. Die Mädchen begannen zu schreien und zu toben, und ich bemühte mich vergebens, Mr. Wilson zu erreichen, der auf die Bank gegangen war.
«Ich komme vom Bezirksgericht», sagte der dicke Kerl, «und ihr Mädchen kommt alle mit zum Verhör.»
«Kommt gar nicht in Frage», versetzte ich. «Was ist denn eigentlich los?»
«'ne Menge», erwiderte er einsilbig.
Dann stürmten Fotoreporter herein und fotografierten die Polizisten, wie sie die Akten an sich rissen, was reichlich dumm war, da kein Mensch sie ihnen vorenthielt. Nach ungefähr einer Stunde kam ein grauhaariger, freundlicher Herr, löste den dicken Kerl ab und schickte uns alle heim.
«Verbrechen ist zu nervenaufreibend», bekannte ich Mary. «Such mir lieber einen langweiligen Posten.» Und das tat sie auch. Ich mußte tagaus, tagein Berechnungen für einen Ingenieur abtippen. Es war schrecklich langweilig, aber es war schließlich Arbeit.
9
Denke ich an früher zurück, so muß ich sagen, daß wir eigentlich am fröhlichsten waren, wenn wir am wenigsten hatten. Unsere Fähigkeit, bei größter Armut guter Dinge zu sein, erstaunte diejenigen, die glaubten, ohne Geld könne man nicht glücklich sein, und empörte alle, die fanden, es stünde armen Leuten schlecht an, sich des Lebens zu freuen. Hätte jeder von uns allein die wirtschaftliche Misere ertragen müssen, wären wir sicher nicht imstande gewesen, trotz des Elends unser Leben zu genießen, aber zusammen hatten wir das Gefühl, alles durchstehen zu können, und wir taten es auch.
Es waren wirklich schlimme Zeiten. Wer eine Stellung hatte, war besessen von der Angst, sie zu verlieren, und wer keine Arbeit hatte, dem verschleierte die Furcht vor Hunger, Kälte und Krankheit den Blick dermaßen, daß er die etwa vorhandenen Möglichkeiten übersah. Ich gehörte zu der letzten Gruppe. Mutter und Mary bildeten eine Kategorie für sich.
Mary, die zu den glücklichsten Naturen gehört, die in Zeiten der Not besondere Kraft und besondere Energie entwickeln, betrachtete die Wirtschaftskrise als eine persönliche Herausforderung. Sie hatte stets eine Stellung, versuchte ihre Familie und Hunderte von Freunden an geeigneten und ungeeigneten Arbeitsplätzen unterzubringen und munterte die gesunkenen Lebensgeister aller derer auf, mit denen sie zusammentraf, indem sie den Konzernen und mächtigen Firmen trotzte.
Als die Telefongesellschaft drohte, unser Telefon zu sperren, weil wir die fällige Rechnung nicht bezahlen konnten, suchte Mary den Präsidenten der Gesellschaft auf und erklärte ihm, daß sie ihn persönlich haftbar machen würde, sollte die Gesellschaft sich einfallen lassen, unseren Apparat abzumontieren. Sie wiederholte uns später bei Tisch wörtlich, was sie dem Allgewaltigen gesagt hatte: «Eine Telefon- und Telegrafengesellschaft ist eine Institution im Dienste der Öffentlichkeit und wird vom Staat unterstützt. Wenn Sie mir mein Telefon sperren lassen, erfüllen Sie keinen Dienst an der Öffentlichkeit, und daher werde ich Sie verklagen. Überhaupt werde ich von heute an die Klägerin Nummer eins der Stadt sein.» Der Vortrag hatte Erfolg. Unser Telefon blieb im Dienst, und unser aller Moral erhielt einen ungemeinen Auftrieb. Bei der Elektrizitätsgesellschaft versuchte Mary ihr Glück mit derselben Methode, aber dort ließen sie sich nicht einschüchtern, und für etwa eine Woche saßen wir ohne Licht da und mußten uns mit alten Weihnachtskerzen behelfen.
Ausgerechnet in jener Woche brachte Mary eines Abends einen Bekannten aus früherer Zeit mit zum Essen. Als wir uns zu der
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