Betty kann alles
grauweiße Haut, eng beieinanderliegende fahle graue Augen, eine dünne gebogenen Nase, schmale Lippen und überhaupt kein Kinn. Sie trug einen gestrickten weißen Wollschal eng um den Kopf geschlungen und gestrickte weiße Handschuhe. Unter dem Schal hervor hing auf die Stirn eine glänzende schwarze Haarsträhne. Ich sah sie ab wartend an, aber sie stand für eine ganze Weile nur da und betrachtete mich mit ihren fahlen Möwenaugen.
Endlich sagte ich ziemlich verzweifelt: «Wer sind Sie? Was wollen Sie?»
«Wer sind Sie?» fragte sie mich darauf zurück.
«Ich bin Betty Bard», erwiderte ich verdutzt.
«Was tun Sie hier?» fragte sie weiter.
«Ich falze Einladungen für die Weihnachtsfeier der Western Transportgesellschaft.»
«Oh», machte sie nur.
«Und wer sind Sie?» erkundigte ich mich erneut.
«Ich bin Dorita Hess. Ich arbeite für die Western Transportgesellschaft», erwiderte sie. «Wieviel wiegen Sie?»
Ich hielt die Frage für einen Scherz, aber Dorita Hess lächelte nicht, und ihre Stimme klang unbewegt und ausdruckslos.
«Warum wollen Sie wissen, wieviel ich wiege?» fragte ich widerspenstig.
«Weil ich gern Bescheid weiß über die Leute. Ich stelle immer Fragen», entgegnete sie prompt.
«Ich wiege hundertdreiundzwanzig Pfund, habe Schuhgröße achtunddreißig und esse nicht gern Hackbraten», gab ich lachend Auskunft.
Dorita verzog keine Miene. «Ist hier noch ein Stuhl vorhanden? Ich soll Ihnen helfen.»
«Ich will mal nachsehen», erwiderte ich, stand auf, streckte und reckte mich, tun meine steifgewordenen Glieder wieder bewegen zu können, und stolperte auf meinen Eisklumpenfüßen in die Dunkelheit. Nach einigen Minuten gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis, aber ich tastete mich nur Schritt für Schritt vor aus Angst vor den Ratten. Irgendwo im Hintergrund fand ich ein paar alte Kisten, aber sie waren mit Papierabfällen und ähnlichem Zeug gefüllt, und ich wagte nicht, sie zu berühren, um nicht womöglich Ratten aufzuscheuchen. Einmal stieß ich auf eine leere Kiste und wandte mich um, um Dorita zu rufen. Sie saß auf meinem Stuhl und suchte etwas in ihrer Tasche.
«Ich glaube, ich habe eine leere Kiste gefunden», rief ich laut. Beim Klang meiner Stimme ließ Dorita die Tasche fahren, langte nach einer der Einladungen und begann den Text zu lesen. Ich versetzte der leeren Kiste einen Tritt, und etwas Dunkles flitzte behende daraus hervor. Ich schrie auf und rannte zurück zu der erbärmlichen Lichtquelle. «In der leeren Kiste war eine Ratte», berichtete ich atemlos. «Ich habe genug von dem Gerümpel. Setzen Sie sich auf den Stuhl, ich installiere mich auf einer der Kuvertkisten.»
«Gut», sagte Dorita nur, blieb sitzen und machte nicht die geringsten Anstalten, mir beim Zurechtschieben der Kisten zu helfen. Dann zeigte ich Dorita, wie die Einladungen gefalzt werden mußten. Sie summte tonlos vor sich hin und sah über meine Schulter.
«Verstehen Sie, wie ich's meine?» fragte ich rados ob ihrem sonderbaren Benehmen.
«Millionen von Ratten», sagte sie. «Ich höre sie überall.»
«Ach, das ist der Regen, der aufs Dach trommelt», entgegnete ich nicht sehr überzeugend.
«Es sind Ratten. Ich sehe ihre Augen in der Dunkelheit leuchten», erklärte Dorita.
«Wo?» fragte ich ängstlich.
«Da, gerade hinter Ihnen.»
Ich wandte mich um, sah aber aus dem Winkel meines Auges, wie eine ihrer weißbehandschuhten Hände mit der Schnelligkeit einer Schlangenzunge vorflitzte und den Stapel mit meinen fertig gefalzten und kuvertierten Einladungen umstieß. «Schauen Sie, was Sie angerichtet haben», hörte ich Doritas Stimme.
Die Kuverts waren auf den Boden gefallen und lagen in alle Richtungen verstreut. Der Gedanke, auf dem schmutzigen Boden niederzuknien und in der Dunkelheit nach den Kuverts zu tasten, behagte mir nicht sonderlich. Ich zog meine Handschuhe an, und da Dorita ihre gar nicht ausgezogen hatte, forderte ich sie auf, mir zu helfen.
«Sie haben sie zu Boden geworfen. Sie können sie auch aufheben», versetzte sie.
«Sie haben den Stapel absichtlich umgeworfen, Dorita, ich habe es gesehen», erklärte ich.
«Ach wo», erwiderte sie, aber ohne jede Betonung und ebenso gleichgültig, als ob sie gesagt hätte: «Wo ist die Tinte?»
«Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, Dorita», beharrte ich. «Warum haben Sie das gemacht?»
«Zum Spaß», antwortete sie und machte dann ein für sie typisches Geräüsch, das wie ein unterdrücktes Lachen klang und
Weitere Kostenlose Bücher